Am späten Abend – Landung in Taipeh. Ein Mann mit einem grossen Plakat mit unseren Namen darauf, erwartete uns in der grell beleuchteten Ankunftshalle. Wir begrüssten ihn in unserem besten Englisch und er zeigte uns sein breites Lächeln. Als wir ihn fragten, wie lange die kommende Fahrt dauern würde, lächelte er weiter und nickte. Er lächelte und nickte auch noch auf alle unsere weiteren Fragen. Wir schauten uns verdutzt an, der Mann verstand offensichtlich kein Wort Englisch. Er zückte aber sein Mobiltelefon, wählte, sprach einige Sätze und hielt mir anschliessend das Telefon hin. Am anderen Ende war mein Bekannter Randy Chang. Nun endlich erhielten wir die Auskunft, dass wir sechs Stunden von unserem Hotel entfernt seien und von Archy, dem lächelnden Fahrer, sicher dahin gebracht würden.
Unsere Reise führte uns von einer der dichtbesiedelten Städte der Welt in den ländlichen Osten, ungefähr eine Stunde südlich der Stadt Hualien, wo wir die nächsten zwei Wochen verbringen wollten. Wir waren überrascht, dass unsere Fahrt so lange dauern sollte, denn wir hatten aufgrund einer eigenen Schätzung, die wir mit Hilfe einer Landkarte aus dem Internet im Stop-Over in Hong Kong angestellt hatten, mit einer zweistündigen Autofahrt gerechnet. In euphorischer Vorfreude hatten wir glatt einen klitzekleinen, unauffälligen Gebirgszug übersehen, der uns von unserem Ziel trennte. Archy zeigte vom Fuss des Gebirges nach oben und ruderte wilde, schlangenartige Bewegungen mit den Armen. Zuversichtlich, da man uns bergerprobten Schweizerinnen ja nichts über Bergstrassen vormachen musste, führten wir unsere Reise in den gewundenen Strassen fort.
Gebirgsfahrtenerprobt mochten wir ja vielleicht sein, aber den Effekt des taiwanesischen Rallyefahrstils hatten wir nicht einkalkuliert. Nach ungefähr einer Stunden meinte meine Freundin kleinlaut: «Du, ist dir auch so speiübel wie mir?». Und in der Tat, auch mir war auch schon ziemlich flau im Magen. Wir baten den Fahrer anzuhalten. Corinne blieb kreidebleich im Auto sitzen, während ich mich im Tankstellenshop auf die Suche nach zwei Flaschen Coca Cola machte. Reisegewandt zückte ich meine Kreditkarte. Aber die junge Frau schaute mich bloss mit grossen Augen an und schüttelte bedauernd den Kopf. Sie zeigte auf den Bankomaten in der Ecke. Aber auch dieser wollte kein Bares ausspucken. Obwohl ich meine Karten zuvor hatte für Taiwan entsperren lassen, verweigerte sich der Automat. Und das sollte auch während der gesamten Reise so bleiben. Ein absolutes Novum in meiner Geschichte als Globetrotter. Gerade in einem Land, das für seine Technikaffinität bekannt war, hätte ich dies am wenigsten erwartet. Archy half uns aus der Patsche und erstand die zwei Flaschen Cola für uns. Irgendwie überstanden wir den Rest der Fahrt und fielen nach unserer Ankunft todmüde ins Bett. Und es verstand sich von selbst, dass wir die Rückreise mit dem Zug bewältigten, dessen Geleise das Gebirge schnurgerade durchstechen.
Wir erwachten früh am Morgen. Beide hatten wir unsere Decken bis zur Nasenspitze hochgezogen. Es war alles andere als warm und eine Heizung hatten wir im Zimmer vergeblich gesucht. Dafür blickten wir von unseren Betten direkt aufs grünblaue Meer. Saftige Wiesen und üppige Gemüsefelder reichten bis an den Strand. Es nieselte und dies sollte sich die nächsten drei Tage auch nicht ändern. Egal ob drinnen oder draussen, wir waren konstant von einem feuchten Dunst umgeben, der durch sämtliche Schichten drang und Nassgewordenes nie mehr trocknen liess. Die Sonne war hinter den Wolken zu erahnen, manchmal sah es fast so aus, als würde die Wolkendecke demnächst aufgerissen, aber schon verdichteten sich die Wolken wieder und es begann wieder stärker zu regnen. Am dritten Abend waren wir schliesslich so durchgefroren, dass wir uns auf den Weg zu den natürlichen heissen Quellen machten. Wir tauchten in grossen Holzpools ins heisse, ein wenig nach faulen Eiern riechende Nass und verliessen es erst wieder, als die Badeanstalt ihre Pforten schloss.
Am vierten Morgen gewann die Sonne schliesslich den Kampf gegen die Wolken. Die Wärme ihrer Strahlen war eine wohlige Überraschung, die Temperaturen schossen sofort markant in die Höhe und die Wälder und Wiesen leuchteten in einem fast schon unnatürlich intensiv wirkenden Grün. Wir dehnten unsere Streifzüge aus und entdeckten an abgelegenen Stränden oder im Wald zwischen Bäumen versteckt kleine, farbige Tempel. Wir stiessen auf weitläufige, bis zum Meer hinunter reichende christliche Friedhöfe. In einem der Städtchen stach mir eine Kirche in Form einer Arche ins Auge. Ein rotes Neonkreuz war am Bug über einem grossen Eingangstor befestig, durch welches man in das Innere der Kirche gelangte. Taiwan ist dafür bekannt, dass Menschen verschiedenster Glaubensrichtungen – Buddhismus, Taoismus, Christentum und einige weitere - friedlich miteinander lebten.
Die Taiwanesen haben ein Flair für Details. In unserem Hotel tummelten sich Dutzende Holz- und Steinfigürchen - Abbilder von Tiere oder Menschen aber auch abstrakte Formen. Wir besuchten ein Freilichtmuseum, in welchem eine Familie seit drei Generationen Schwemmholzfiguren und Steinskulpturen herstellten und in einem liebevoll hergerichteten Garten ausstellt. Der Garten reicht direkt bis zu einem dunklen Sandstrand, die Magie des Ortes war beinahe fassbar. Es überraschte uns deshalb nicht, dass diese Stelle von Mönchen aufgesucht wurde, um in tiefe Meditation zu versinken. Und auch uns offenbarte die Bucht absolute Perfektion: hohe, türkisfarbene Wellen rollten in die Bucht.
Die Eltern meines Bekannten Randy Chang waren vor seiner Geburt nach Kalifornien ausgewandert - er verbrachte deshalb seine ersten 15 Lebensjahre in Kalifornien. Dann zog es die Familie wieder zurück auf die Insel. Nach seinem Studium begann Randy – dessen perfektes Englisch ihm zu Gute kam - in einer der vielen Elektronikbuden zu arbeiten, die für das Wirtschaftswachstum Taiwans in den 90er Jahren mitverantwortlich waren. Er wurde schnell Teilhaber und brachte das Unternehmen zusammen mit seinen Kollegen zum Blühen. Vor fünf Jahren verkaufte er seine Aktien, stieg aus dem Unternehmen aus und zeigt seither Naturbegeisterten und Surfern die schönsten Orte der Region Hualien.
Randy kennt jedoch nicht nur die schönsten Strände und Wasserfälle, sondern auch die besten Restaurants. Am Tag führte er uns durch die Strassen der Städtchen und bestellte erlesene Köstlichkeiten an den Essensständen. Wir waren weit und breit die einzigen Westler. Und schnell lernten wir, nicht mehr zu fragen, was wir denn da eigentlich assen. Denn unsere schweizerische Rationalität liess uns bei Antworten wie Taube, Qualle, Schnecken, Laich oder Blätter erschaudern. Unser Gaumen erlebte jedoch jedes Mal kulinarische Höhenflüge. Am Abend schickte Randy uns in Restaurants, die taiwanesische Haute Cuisine, traditionelle einheimische Küche oder frisches Sashimi servierten – wir kehrten stets mehr als satt ins Hotel zurück und waren überzeugt, wir hätten das Schlaraffenland auf Erden entdeckt.
Beim Besuch von Supermärkten und den Strassenständen in kleinen Städtchen fiel mir einmal mehr die Detailaffinität der Taiwanesen auf, die auch beim Produktedesign unübersehbar war. In den meisten Fällen schlägt das Liebliche hier jedoch – zumindest für unseren Geschmack – in Kitsch um. Im Supermarkt kam ich mir konstant so vor, als hätte ich im in der Kinderabteilung verirrt, denn von praktisch jeder Verpackung grinsen einen irgendwelche farbige Mangas an. Wilde Mischungen aus Hello Kitty, Teletubbies und der Diddle Maus, die mich mit ihren überdimensionalen Augen und offenen Mündern aus jedem Regal anglotzten – ein Paradies für alle Mangafans!
Die meistens Leute, auf die wir trafen, waren 50 oder älter und sprachen kein Wort Englisch. Was jedoch nicht hiess, dass sie nicht mit uns kommunizieren wollten. Sie schauten uns mit offenen, neugierigen Gesichtern an und versuchten mit Händen und Füssen herauszufinden, woher wir waren und was wir in dieser abgelegenen Gegend wollten. Randy erklärte uns, wieso hier praktisch nur noch Senioren lebten. Die meisten jungen Leute seien entweder in die nächste grössere Stadt Hualien, in den wirtschaftlich stärkeren Westen oder in die Hauptstadt Taipeh gezogen. Es gäbe in dieser Gegend praktisch keine Arbeit mehr. Früher hätte man hier von der Fischerei gelebt, aber das Meer sei mehr oder weniger leer gefischt und die Industrie nach China abgezogen. Der einzige Zweig, der hier boomt, ist der Tourismus: chinesische Touristen, die in Cars in Heerscharen angekarrt werden, wie Heuschrecken zur Mittagszeit in die Restaurants einfallen, um danach sofort wieder zu verschwinden.
Auch unsere Gastgeberin, Mama Chen, war eine reifere Dame, aber eine besonders bemerkenswerte. Egal zu welcher Tageszeit, Mama Chens Frisur sass perfekt, der Lidschatten hatte jeden Tag eine andere, auf ihre Kleidung abgestimmte Farbe, den ganzen Tag arbeitete sie in der Waschküche oder im Garten oder aber sie verfrachtete ihren Mann ins Auto und fuhr ins Städtchen zum Einkaufen. Besonders amüsant war ihr unübertreffbarer Enthusiasmus, den sie an den Tag legte, wenn sie in ihrem Handy die Taiwanesisch-Englisch Übersetzungs-App startete. Sie sprach lange Monologe in ihr Telefon, bevor sie uns mit leuchtenden Augen das Gerät hinhielt, dass in Höflichkeitsformen gewundene, komplizierte, meist aber sogar verständliche Sätze ausspuckte. Natürlich kam es zu den obligaten Missverständnissen und unmöglichen Formulierungen, die regelmässig zu Lachanfällen auf beiden Seiten führten. Doch sie zeigte jedes Mal mit grossem Stolz auf das Gerät und strahlte «my English teacher». Am Ende unseres Aufenthalts lud Mama Chen uns in ihr Lieblingsrestaurant ein, das direkt hinter dem lokalen Fischmarkt lag und frischen Fisch und Meeresfrüchte auftischte. Beim Abschied umarmte sie uns und nahm uns das Versprechen ab, bald wiederzukommen. Und genau das werden wir!
Fotos: Randy Chang