Hongkongs inspirierendes Nebeneinander

Tradition & Moderne, West & Ost, Stadt & Land
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Autorin

Lisa von Ortenberg

Lisa besuchte die Deutsche Journalistenschule DJS und arbeitete als Reporterin für Die Welt, Glamour und Jolie. Seit 2009 schreibt sie als freie Journalistin für Magazine wie The Brander Reportagen und Portraits aus dem asiatischen Raum. Ausserdem lehrt sie Germanistik an der Fudan University of Hong Kong. 

«Man kann hier nicht zimperlich sein», sagt Elaine Chan und zeigt schulterzuckend ihre Verbrennungsnarben, die sie sich am Herd geholt hat. Zusammen mit ihrem Mann Willy führt sie seit über 35 Jahren ein günstiges aber leckeres Freiluftrestaurant (74 Stanley Street) in Hongkongs bester Innenstadtlage. Plastikbestuhlung, 5 Minuten Wartezeit, Gerichte für unter fünf Franken. «Dai Pai Dong» heisst ihr Lokal in der Landessprache, übersetzt etwa «lizenzierte Garküche.» Die Lizenzen für Strassenküchen wurden nach dem letzten Krieg ausgegeben, um Witwen und Invaliden ein Auskommen zu sichern. Heute würde die Hongkonger Regierung die offenen Küchen aus Hygienegründen allerdings lieber sofort schliessen. Solche Etablissements passen einfach nicht mehr zu «Asia’s World City» mit ihren Banktürmen, Shoppingmalls und all dem Luxus, der die Stadt dominiert. 

Zufriedenes Nebeneinander - im Grossen und Ganzen

Aber Elaine und Willy sind noch da. «Und die Banker kommen auch oft zu uns, um Bratfisch mit Ingwer zu essen.» Elaine muss weitermachen. Der Laden brummt – wie jeden Tag zur Mittagszeit. Und das ist etwas Wunderschönes in Hongkong. Das Nebeneinander von Tradition und Moderne, von Ost und West. Kantonesen, Engländer, Franzosen, Australier, Leute von überall her kommen hier zusammen und finden ihre Nische. Nur mit den Festland- Chinesen verstehen sich die Einheimischen nicht besonders. Die haben keine Manieren, finden sie. Ansonsten kann hier jeder auf seine Art ziemlich glücklich leben. Man bekommt Babymilch aus der Schweiz, Brot aus Deutschland, Entenbrust aus Frankreich und Biere aus aller Herren Länder. Ich weiss, wovon ich spreche. Schliesslich bin ich auch schon seit fast fünf Jahren hier – und fühle mich jede Woche gut von der Stadt unterhalten. Nicht im Sinne von Oper, Theater, Museen – das spielt in Hongkong eher eine untergeordnete Rolle. Doch ich mag es sehr, gleich hinter den Wolkenkratzern Überbleibsel aus dem alten, exotischen Hongkong zu entdecken. Der Man Mo Tempel auf der Hollywood Road ist ein gutes Beispiel. Man findet ihn, wenn man direkt neben Elaines Garküche den Escalator besteigt und hochfährt in ein schickes Stadtviertel, das vor zwanzig Jahren noch ziemlich schäbig war.

Obwohl mitten in der Innenstadt gelegen, war es eine Art Rotlichtgegend. Die besseren Hongkonger Bürger wollten nicht dort leben, sie fanden den Weg hinauf einfach zu steil. Vor allem im schwül heissen Hongkonger Sommer. Da kam die Stadtregierung Mitte der 1990er auf die geniale Idee, eine 800 Meter lange Rolltreppe zu bauen – und seit deren Eröffnung Ende der 1990er Jahre boomt die Gegend. Der Escalator ist heute noch die längste überdachte Rolltreppe der Welt – und ein perfekter Einstieg in die Stadt. Da Hongkongs Mietpreise so teuer sind, haben sich auch in höheren Etagen links und rechts der Rolltreppe Geschäfte, Restaurants oder Spas angesiedelt – in deren Fenster man blicken kann, während man elegant über verschiedene Querstrassen und Ebenen hinwegfährt. Rechterhand kommt der Graham Street-Freiluftmarkt ins Blickfeld, auf dem Obst, Gemüse, aber auch frische Fische und Schweine verkauft werden. Auf einer winzigen Grünfläche darunter kann man Köchen in Uniform beim Rauchen zusehen. Es ist ein bisschen wie Fernsehen. 
 

Soho auch in Hongkong

Und immer, wenn sich etwas besonders Spannendes tut, steigt man aus. Zum Beispiel auf der Hollywood Road, auf der schon vor 150 Jahren Matrosen auf Durchreise ihre Fundstücke von Übersee verkauften, damals, als das Meer gleich hinter der Queens Road begann. Daraus entwickelten sich die ersten Second Hand Shops, viele Landaufschüttungen später entstanden Boutiquen, Galerien und Restaurants. Irgendwann gab es in dem Areal so viele Lokale, dass ein findiger Marketingstratege die Ausgehgegend in Soho (South of Hollywood) umbenannte – in Anlehnung an das Soho in London und New York und als Hommage an die Hauptader Hollywood Road. In deren Mitte ruht seit über hundert Jahren der Man Mo Tempel. Ein wunderbarer Ort der Stille, in dem die Einheimischen heute noch Räucherspiralen, Blumengestecke oder Obstschalen opfern, den Stadtgöttern zu Ehren. Rechts vom Tempel, der Hollywood Road entlang, in Richtung Sai Ying Pun, setzen sich die Boutiquen fort. 
 

In der Gough Street ganz offensichtlich, hier steht Designladen neben Vintageparadies neben Bistro. Aber in manchen kleinen Querstrassen muss man sie erst entdecken – neben winzigen Druckereien, alten Möbelgeschäften, chinesischen Medizinläden, die getrocknete Seepferdchen und namenlose Kräuter verkaufen, neben Pantoffelmachern und weiteren Garküchen, die sich auch noch nicht haben verjagen lassen. Diese entzückende Planlosigkeit, dieses bunte Nebeneinander freut einen umso mehr. 

«Die Gegend verändert sich fast jede Woche», sagt Dervla Louli, die wir in einem der vielen Cafés treffen, weil sie hauptberuflich immer auf der Suche nach neuen Hot Spots ist. Sie ist erst vor zwei Jahren aus London nach Hongkong gekommen, hat aber mit gerade 26 Jahren bereits eine hongkongtypisch wilde Karriere gemacht. Inzwischen fungiert sie als geschäftsführende Redaktorin eines Onlinemagazines namens «Sassy Hong Kong», das pro Jahr mehr als 1000 Events und Eröffnungen bespricht und einen tollen City Guide auf seiner Website hat. Dervla ist dafür auch abends, nach ihrem Bürotag, viel unterwegs. «Work hard, play hard», zitiert sie augenzwinkernd das Motto vieler junger Leute in Hongkong. Sie liebt es so und will gar nicht mehr weg. Für jeden Stadtteil sprudelt sie ihre Lieblingsecken und Geheimtipps nur so heraus. Stockton ist ihr Lieblingsrestaurant in Central, die versteckte 001 Bar perfekt für den Whiskey danach. Die besten Marktstrassen – den Jademarkt, den Temple Street Nachtmarkt oder den idyllischen Vogelmarkt zum Beispiel – gibt es auf der Halbinsel Kowloon. 

Die Natur liegt so nah

Und der schönste Weg dahin, da sind wir uns einig, führt für umgerechnet 25 Rappen quer durch den Hafen. Mit der grün-weissen Star Ferry nämlich, die seit 100 Jahren schon Hongkong Island und die Peninsula Kowloon verbindet. Schmächtige Matrosen in blauer Uniform machen die Leinen los – der Dieselmotor arbeitet schwer klopfend. Die umwerfende Hafen-Skyline der einen Seite entfernt sich, wenige Minuten später legt man auf der anderen an. Wunderbar ist das, vor allem abends. Wer danach nicht wenigstens ein bisschen in Hongkong verliebt ist, dem ist nicht zu helfen. Sehr beeindruckend ist auch das Hinterland Kowloons, die «New Territories» an der Grenze zu China, das durchzogen ist von wunderbaren Stränden und endlosen Hiking Trails, die denen der Alpen in nichts nachstehen. Wandern am Wochenende gehört deshalb zum guten Leben in dieser Stadt unbedingt dazu. Aber das wäre eine eigene Geschichte. 
 

Bleiben wir noch etwas in der Stadt. «Dark Side» – sagen die Expats gern zu Kowloon, weil sie es gar nicht lustig finden, wenn ein Taxifahrer wirklich mal kein Wort Englisch versteht. Stephen Chung kann darauf nur eins antworten: «Quatsch!» Gerade für Touristen ist der chinesische Alltag doch oft das Spannendste an Hongkong überhaupt. Stephen ist bereits Partner in einer Werbeagentur – aber weil er gern das Maximum aus seinem Leben herausholt, hat er vor ein paar Jahren zusätzlich «Secret Hongkong»“ gegründet: Stadtspaziergänge, auf denen er Touristen und Einheimischen einige der abgefahreneren Ecken und das wahre Leben in Hongkong zeigt. Zwischen den Märkten und Tempeln und der atmosphärischen 70er Jahre Architektur von Yau Ma Tei kennt er beispielsweise eine Menge pensionierter Barber und Dim Sum Köche, die voller Geschichten stecken, die Stephen noch so gern übersetzt. 

Einige Hongkonger arbeiten zu viel und leben etwas zu konform, findet er. Aber ansonsten ist er stolz auf seine Heimatstadt. Auf die sauberen, effizienten Verkehrsmittel. Dass es ein halbwegs ordentliches Rechtssystem gibt. Doch am schönsten ist für ihn, dass hier, typisch chinesisch, die Familie ohne Zweifel noch an erster Stelle steht. Klar, dass er jeden Sonntag mit seinen Eltern und den vier älteren Schwestern zum Essen zusammenkommt. Hongkong hat weltweit die höchste Dichte an Restaurants pro Kopf, sämtliche Küchenrichtungen sind vertreten. Manchmal sind sie nicht billig, dafür ist die Qualität meist ausserordentlich. Selbst das günstigste Michelinrestaurant der Welt findet sich im Stadtteil Mongkok – und wer unbedingt Hühnerfüsse probieren will, der sollte es eben dort, bei Tim Ho Wan tun. 

Mein Lieblingsort für Gäste aber ist die Bar des Ritz Carlton Hotel im 118. Stock des International Commerce Center ICC. Sie nennt sich «Ozone» und gilt derzeit als höchste Bar der Welt. Der Lift hinauf dauert wenige Sekunden, danach verschiebt sich die Perspektive: Adrett aufgereiht steht die Armada von Wolkenkratzern. Die Schiffe unten im Hafen sehen aus wie Spielzeug. Die Hubschrauber fliegen unter einem. Das Tempo der Strassen entschleunigt sich. Die umliegenden Inseln unten im Meer ähneln grünen Moosbällen. Und statt des omnipräsenten Baulärms hört man nur noch die Bässe der DJs unter dem Himmel. Das Dach wurde nämlich offen gelassen. Als wolle man sagen, dass es hier nach oben keine Grenzen gibt. Wer was werden will, kann es schaffen. Während wir vielleicht gerade ein paar Wagyu Mini Burger bestellen, knipsen unten die Hochhäuser ihre Lichter an. Und das grandios surreale Selbstverständnis dieser Metropole zeigt sich endgültig in Gänze, unverstellt. Willkommen in Hongkong, der geschäftigsten, verfressensten, gegensätzlichsten Stadt der Welt.

Fotos: Philipp Engelhorn