Seit zwei Stunden das gleiche Bild beim Blick durch das Flugzeugfenster: graue Wolken. Doch nun, da wir etwas tiefer fliegen, lichten sie sich und auf einmal wechselt der Farbton. Eine unendliche sattgrüne Fläche kommt zum Vorschein. Nichts als Grün, soweit das Auge reicht. Nur hie und da schlängeln sich kleinere und grössere Flüsse durch das Dickicht. Das muss er also sein, der Regenwald des Amazonasbeckens. Die grüne Lunge des Planeten, grösser als Westeuropa, Reservoir von 20% des weltweiten Süsswassers und Heimat von mehr als 40 000 Tier- und Pflanzenarten.
Die Hauptstadt des Staates Amazonas ist Ausgangspunkt für sämtliche Reisen in die Region. Egal wohin diese führen, ein Schiff ist dafür unverzichtbar. Vom bunt bemalten hölzernen Rundfahrtenschiff bis zum rustikalen Einbaum passieren wir unzählige Bootsarten auf unserem Weg auf die andere Seite des Rio Negro, wo der Transport zur Dschungel-Lodge im VW-Bus weitergeht. Ja sogar eine schwimmende Filiale der Bank Bradesco liegt vor Anker und für abgelegenere Regionen gibt es zusätzlich Gerichts- und Spitalschiffe.
Beim Bus nimmt uns João in Empfang, unser Begleiter während den nächsten vier Stunden bis zur Juma Lodge.
begrüsst er unsere Gruppe schmunzelnd in perfektem Englisch. Und tatsächlich, schon nach wenigen Minuten Fahrt auf einer lehmigen Landstrasse sehen wir nur noch ab und zu einzelne Häuser. Die Strasse wird zunehmend unebener und schmaler. In einem Teich entdecke ich Riesenseerosen mit ihren charakteristischen kreisrunden Blättern, weiter vorn fliegt eine Gruppe rotblau-gefiederter Aras majestätisch über die Baumkronen.
«Hier steigen wir auf Schnellboote um, die uns zur Lodge bringen“, erklärt João, als wir nach einer Stunde eine grössere Flussverzweigung mitten im Dschungel erreichen. Kurz darauf brausen wir dem von mächtigen Bäumen gesäumten Ufer eines schmalen Flüsschens entlang, das immer breiter wird und schliesslich in einen grossen Flusslauf mündet. Doch welches ist eigentlich der Hauptfluss und welches sind die Seitenarme? Geschickt manövriert der Steuermann das Schnellboot durch unzählige Abzweigungen, währendem ich längst die Orientierung verloren habe.
Die Lodge tront hoch oben in den Baumwipfeln. Ein eigentliches Pfahlbaudorf, vom Ufer nur über eine 15m lange Treppe erreichbar. Die Materialien stammen aus der Umgebung, ebenso wie die Arbeitskräfte. Bei unserer Ankunft erneuern diese gerade das Dach der Reception: Babaçu-Palmenblätter werden zurechtgeschnitten und mittels einer raffinierten Technik übereinander gelegt. Alles andere ist aus regionalen Hölzern mit Namen wie Jacareúba, Itaúba oder Aquariquara gefertigt. Stege verbinden die Stelzenbungalows untereinander, die Energieversorgung wird durch Generatoren gewährleistet. Allerdings nur von 19 Uhr Abends bis 7 Uhr Morgens, die Lodge gilt als vorbildlicher Ökotourismus-Anbieter. Mein Handy hätte ich eigentlich in Manaus lassen können, denn es gibt hier kein Signal, geschweige denn Internet. Das Interieur der Bungalows ist allerdings komfortabler als erwartet: bequeme Betten, ein sauberes Bad und eine grosse Hängematte auf dem Balkon mit Aussicht auf den Juma-Fluss. Unter mir zirpen Grillen, etwas weiter weg scheinen sich zwei Vögel miteinander zu unterhalten und langsam versinkt die Sonne im Dschungel. So bezaubernd, dass es fast kitschig wirkt.
«Schau Dir diese Markierungen an», sagt unser Guide Nilson, und zeigt auf braune Verfärbungen am unteren Rand der Receptionstheke. «Vor zwei Jahren stieg das Wasser während der Regenzeit so hoch wie nie zuvor, wir mussten die ganze Lodge einige Wochen schliessen.» Eine Folge der Klimaerwärmung? Er zuckt mit den Schultern. «Grosse Unterschiede des Wasserstandes zwischen Trocken- und Regenzeit sind normal und können bis 15m betragen. Deshalb sind die meisten Häuser auf Stelzen gebaut. Aber wenn dies nächstes Jahr wieder passiert, haben wir ein Problem.» Laut Statistik fällt jährlich bis zu 3000mm Niederschlag in der Regenzeit, so dass ein Fünftel des Amazonasgebietes gänzlich überflutet wird. Dann habe es auch mehr Moskitos, welche ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt und auch nicht vermisst habe. Trotzdem benutze ich täglich Insektenschutzmittel, schliesslich gilt ganz Amazonien als Malaria-Risikogebiet.
Seit geraumer Zeit ist unser kleines Boot bei strahlendem Wetter am Rand eines Schilfs positioniert und wir starren zu fünft gebannt abwechslungsweise aufs Wasser und dann wieder auf Jenilson, den Steuermann. So hatte ich mir das Piranhafischen nicht vorgestellt. Wie geheissen, hatten wir ein Stück Fleisch an der Angelschnur befestigt und diese so weit wie möglich hinausgeworfen. Und gewartet. Und gewartet. Und gesehen, wie Jenilson einen Piranha nach dem anderen rausfischt. Wie macht der das? Er lächelt nur scheu, ist kein Mann der grossen Worte. Das überlässt er Nilson, der uns wild gestikulierend Mut zuspricht. Da, endlich, plötzlich zappelt es am Ende meiner Schnur, jetzt nur nicht nervös werden...
Am Abend werden die gegrillten Piranhas aufgetischt – sie sind überraschend schmackhaft, wenn auch mit etwas wenig essbarem Fleisch. Star des Menus ist eindeutig der Tambaqui, portugiesisch für Schwarzer Pacu, der bis zu einem Meter gross wird und eine lokale Fischspezialität ist. Zum Dessert gibt es Passionsfrucht-Mousse, köstlich fruchtig.
Der Wecker klingelt. Trotz der gewöhnungsbedürftigen, gar nicht so stillen Geräuchkulisse von Grillen-, Vogel- und Dschungellauten habe ich sehr gut geschlafen. Auf zum Sonnenaufgang! Jenilson kommt pünktlich um 6h mit dem Boot, doch leider verwehren uns einige Wolken das prachtvolle Naturschauspiel. Hoffentlich ist die nachher geplante Dschungelwanderung von mehr Erfolg gesegnet. Wiederum per Boot fährt uns Jenilson zwischen aus dem Wasser ragenden Baumstämmen hindurch zu einem seichten Seitenarm des Juma-Flusses und folgt diesem. An einem Anlegeplatz ausgestiegen, stechen wir geradewegs in den dichten Dschungel. Nilson macht mit der Machete hier und dort den Weg frei, der eben verläuft. Trotzdem sind wir nach wenigen Minuten pflotschnass. Die Luftfeuchtigkeit von 95% macht sich bemerkbar. Unser Guide imitiert gekonnt Vogellaute, zeigt uns riesige Ameisenkolonien und erzählt von der Flora und Fauna. Leider will die Vogelspinne partout nicht aus ihrem Versteck kommen, was ich nur halb so schlimm finde. Die Dschungelwelt hält auch Kuriositäten bereit: der Stamm der Stelzenpalme bildet Stelzwurzeln ausserhalb der Erde, die bis zu zwei Meter hoch werden. Laut Einheimischen besitzen diese «laufenden Bäume» die Fähigkeit, sich durch Absterben und Nachbilden der Wurzeln langsam fortzubewegen, so etwa um aus dem Schatten grosser Baumriesen heraus an die Sonne zu gelangen.
Anderntags ist ein Mittagessen bei einer lokalen Familie angesagt, welche eine Art Allerlei-Dinge-zum-Leben-Laden am Flussufer betreibt. Von Hygieneartikeln über Lebensmittel bis zum Motoröl gibt es alles zu kaufen. Die Kunden kommen – wie könnte es anders sein – per Boot. Das Haus ist einfach gebaut und profitiert von den praktischen Vorteilen der Nähe zum Wasser: die Toilette mit Dusche fliesst direkt in den Fluss und auch die Küchenreste werden an die Fische verfüttert, welche unterhalb des Hauses leben.
Kurz nach dem vorzüglichen Essen beginnt es heftig zu regnen. Wir ziehen uns unter das Vordach zurück und warten. So stelle ich mir die Regenzeit vor. Warten, während es wie aus Kübeln giesst. Und während wir geduldig das Ende des Regens herbeisehnen, gehen mir nochmals die Bilder von der Nachtexpedition durch den Kopf. Nur vom Mond beleuchtet fuhren wir auf dem pechschwarzen Wasser flussabwärts, mit der Absicht, Kaimane zu finden. Nilson benutzte dafür eine Taschenlampe, mit der er das Ufer ableuchtete. Die Augen der Kaimane reflektieren das Licht und verraten ihren Standort, ohne dass sie uns bemerken würden. Und tatsächlich, da funkelte was in der Dunkelheit. Ohne Motor näherten wir uns an und Nilson lehnte sich mit ausgestrecktem Arm kopfüber vom Bug des Bootes. Dann gings blitzschnell: kurz bevor wir an Land aufliefen packte er mit blosser Hand einen jungen Kaiman am Hals und zeigte ihn in der sichtlich beeindruckten Gruppe. Nicht schlecht!
Endlich hat es aufgehört zu regnen und die Expedition kann, nachdem Jenilson das Boot ausgeschöpft hat, weitergehen. Gemütlich tuckern wir an verschiedenen Reiherarten vorbei und beobachten Chamäleone, die sich in Ufernähe sonnen. Tukane, die mit ihrem überproportional grossen Schnabel einem Flugzeug ähneln, fliegen im Auf-und-ab-Flug über uns hinweg. Plötzlich hält Jenilson an: „Da vorne! Im Wasser! Ein rosa Delfin!“ Ungläubig suche ich die Wasseroberfläche ab, und tatsächlich: ein rosa schimmernder Amazonasdelfin streckt seine Nase aus dem Wasser, gefolgt von Stirn und Rumpf. Faszinierend. Auch Nilson ist sichtlich bewegt und springt ins Wasser, um den Delfin zu streicheln, was dieser auch ohne weiteres zulässt. Ein ergreifender Moment, an den ich mich auf der Rückreise gerne ausgiebig erinnere – bis nach Manaus dauert es schliesslich ein Weilchen.
Fotos: DER Touristik Suisse AG