Sizilien? Warum nur? Sizilien! Warum nicht! Die Insel bietet keinen Trevi-Brunnen wie Rom, keine Laufstege wie Mailand, sie hat nicht den mondänen, pompösen, luxuriösen Anstrich Sardiniens. Die ersten Assoziationen, die einen durch den Kopf gehen, wären nicht eben geeignet für eine Touristenwerbung: Sizilien, das ist doch auch ein Synonym für Mafia, man denkt sofort an Al Capone, an den Filmklassiker «Der Pate». Auch ist es die Heimat von düsteren Gestalten — dunkle Gassen wären wohl gescheiter zu meiden. Vielleicht geben die Erinnerungen aus der Schulzeit auch noch her, dass der Vulkan Ätna gelegentlich ausbricht und Sequenzen davon in der Tagesschau zu sehen sind. Und vielleicht ist irgendwo sogar abgespeichert, dass viele griechische Tempel die Erscheinung prägen oder Commissario Montalbano von Schriftsteller Andrea Camilleri knifflige Fälle zu lösen versucht. Aber sonst?
Man mag ein Bild haben von dem, was Sizilien zu bieten hat, aber es ist eher eine oberflächliche Wahrnehmung, und es geht ins Bösartige über, die Gleichung Sizilien = Mafia aufzustellen. Das ist in etwa so ein Klischee wie Schweiz = Schokolade.
Das Schöne aber ist: Sobald man in Palermo gelandet ist und das Mietauto abgeholt hat, taucht man ein in eine Welt, die für den Touristen von mafiösen Machenschaften unberührt bleibt. Und man darf sich ruhig auf den famosen deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe verlassen, einen klugen Kopf des 18. Jahrhunderts, der 1987 auf einer grossen Reise durch Italien auch nach Sizilien kam und den dortigen Aufenthalt mit einem wunderbaren Satz zusammengefasst hat: «Dass ich Sizilien gesehen habe, ist mir ein unzerstörlicher Schatz auf mein ganzes Leben.»
Unsere Reise führt nicht nach Downtown Palermo, sondern in den Süden, und kaum hat man den Flughafen und die Grossstadt mit ihren 680 000 Einwohnern hinter sich gelassen, nimmt das Tempo ab. Es setzt automatisch eine Entschleunigung ein, dafür genügt allein der Blick in die Ferne, über weite Felder und manchmal einen angrenzenden Golfplatz. Der Strassenverkehr hat so nichts von nervender Hektik. Nicht, dass man fleissig den Blinker stellt (aus dem Rahmen fällt vielmehr, wer ihn überhaupt einsetzt), nur spielt das auch keine Rolle. Vortritt hat, so sieht es aus, eigentlich jeder. Und Mut haben muss jeder. Auf der SS18 geht’s letztlich doch unvermeidlicherweise an der berühmten Kleinstadt Corleone vorbei (ohne Halt), die Annäherung an Agrigento geht zügig voran.
An der Südküste Siziliens liegt die Stadt, von der innert einer Viertelstunde das Meer erreicht wird. Und Agrigento steht für Geschichte, nach der kein Tourist suchen muss — sie wird ihm vorgesetzt. Die archäologischen Stätten erheben sich, die Tempel sind stumme Zeugen ihrer Erbauer, griechische Auswanderer. Die Einheimischen nutzen sie längst als touristische Attraktionen. Goethe schaute damals auf seiner Reise auch hier vorbei, überliefert ist, wie sehr ihm der Römische Sarkophag Eindruck machte und er sagte: «Mich dünkt, von halberhabener Arbeit nichts Herrlicheres gesehen zu haben, zugleich vollkommen erhalten.»
Wir lassen Agrigento hinter uns und brechen auf Richtung Zipfel Siziliens, Richtung Städte, die extensiv diese Italianità ausstrahlen, die so ansteckende Wirkung hat: Ragusa, Noto, Siracusa.
In Ragusa kommen so etwas wie heimatliche Gefühle auf. Dieser Name! Und diese Architektur! Oder ist es einfach nur Zufall, dass alles aussieht, als wären wahllos Zündholzschachteln aneinandergereiht oder übereinander gestapelt worden? Ragusa ist eine zweigeteilte Stadt, eine Folge des Wiederaufbaus nach einem Erdbeben Ende des 17. Jahrhunderts. An der Corso XXV Aprile 80 findet sich die Salumeria Barocco, ein unscheinbarer Laden, aber einer, in dem der Kunde verwöhnt wird — mit Kost und Gastfreundschaft. Drei Sorten Käse? Und Salami? Reicht. Dann setzt der Chef auf einem Holzteller ein beeindruckendes Lokalgedicht vor: Ubriaco allo Zibibbo, Ricotta infornata und Pecorino fresco, dazu Salami und selber gemachtes Brot, für ein paar Euro ist selbst der grösste Hunger gestillt.
Ragusa ist ein Vorgeschmack auf das, was kommt: wunderbare, verwinkelte Städte, einladende Gassen, Menschen, die Fremden nicht missmutig, sondern mit einem Lächeln begegnen. Eine Stunde östlich liegt Noto in der Provinz Syrakus, ein lieblicher Ort mit 22 000 Einwohnern und seit 2002 auch Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Das Leben findet auf der Strasse statt, in den Cafeterie, in denen noch echter Kaffee serviert wird, in denen der Einheimische mit Vorliebe am Tresen stehend seinen Espresso schlürft und die Gazzetta dello Sport unter den Arm geklemmt hat. In einer Garage reparieren zwei Männer Vespas, und sie verkaufen auch die Originalfahrzeuge. Eines mit Baujahr 1967 wird für 700 Euro angeboten. Um den Transport bräuchte man sich nicht zu Sorgen: Zumindest bis Mailand wäre er im Preis inbegriffen. Der Rest, sagt er, wäre sowieso keine Sache mehr, Zürich sei gleich hinter Mailand …
Unbeschwert geht dieser Sizilianer durchs Leben, er zeigt gern seinen Schalk, aber wie könnte man den falsch verstehen? Und er ist ein Geniesser, natürlich. Was bei dieser Küche nicht weiter verwundern kann. Alle Variationen der Pasta, dazu Dolce, Süsses, gewiss nicht kalorienfrei, dafür doppelt gut: Cassata Siciliana, Schokolade, Ricotta, Marzipan, Gelee. Und was in Ragusa und Noto normal ist, gilt selbstredend erst recht für Siracusa, die Stadt an der Ostküste mit etwas mehr als 120 000 Einwohnern. Das Herz Siracusas schlägt in Ortigia, in der Altstadt auf einer Halbinsel.
An diesem wunderbaren Sonntagmorgen spielt einer Handorgel am Wasser, es sind melancholische Töne in der Idylle. In der Kirche San Benedetto versammeln sich die Einheimischen, meist Ältere, zur Frühmesse, andere halten am offenen Tor des Gotteshauses kurz an, um sich zu bekreuzigen, dann gehen sie weiter. In den Gassen rüsten sich die Gastronome auf den Ansturm am Mittag und vor allem auch am Abend, sie richten Tische und Stühle wieder feinsäuberlich her. Zu Stosszeiten und in der Hochsaison braucht es zuweilen einiges Glück, um sich einen begehrten Platz mit Aussicht auf die Piazza oder die Strasse zu ergattern. Siracusa wirkt eine Spur hektischer und touristischer als Ragusa oder Noto und doch nicht so, dass es angebracht wäre, die Flucht zu ergreifen. Besonders gemütlich wird es am Abend, und selbst wenn sich Menschenströme durch die Gassen wälzen: Man gewöhnt sich automatisch daran, Rücksicht zu nehmen.
Der Abstecher zum Ort, den einst griechische Siedler gründeten, gehört zu den Highlights. Und doch ist es nicht der Abschluss der Tour über die Insel. Schliesslich gibt es auch noch den Vulkan Ätna, der manchmal dampft und sich in diesen Tagen nicht gern zeigt. Nebel hat den mächtigen Krater eingehüllt, was nichts daran ändert: Der Ätna thront majestätisch über Catania, er ist aus kilometerweiter Entfernung zu sehen. Zu seinen Füssen liegen Villaggi, kleine Dörfer, verschlafene Nester.
Nach Zafferana ist Taormina der letzte Etappenort, das so viele Eigenschaften eines Dorfes hat und doch keines sein kann. Unten, am Strand, lässt sich im Herbst nur erahnen, was im Sommer hier los sein dürfte. Bars und Discos, Restaurant an Restaurant — allein der Gedanke daran ruft unangenehme Gefühle hervor. Aber wer den schmalen Weg hinauf nach Taormina fährt, erhält ein anderes Bild. Nicht, dass dieser Fleck Erde Touristen nicht anziehen würde, das nicht. Aber wer den Corso Umberto hinter sich lässt, um himmelwärts zu fahren, findet Hotels nicht nur von gehobener Qualität, sondern auch mit Gastgebern, die Herzlichkeit vorleben. Und die einen Gast, ohne ihn zuvor gekannt zu haben, beim Empfang gleich in die Arme schliessen.
Die Sonne versinkt am Horizont, sie färbt das Meer in ein wunderbares Orange, dann bricht die Nacht über Taormina herein. Sizilien? Sizilien! Immer wieder.
Fotos: iStock, Peter Birrer