Wie ist es eigentlich, wenn man nach langen Jahren an jenen Ort zurückkehrt, der im Zentrum eines wichtigen Lebensabschnitts stand? Eine (etwas eigenartige) Reportage über die toskanische Stadt Lucca.
In der Kunst und Kultur ist es ja durchaus beliebt, die Protagonisten mit der eigenen Vergangenheit zu konfrontieren. Ist diese Zeitreise dann auch noch subtil skizziert und inszeniert – wie beispielsweise in Thomas Pynchons Roman «Natürliche Mängel» oder in den US-Serien «The Americans» und «True Detective» – kann sie für einen beinahe hypnotischen Sog besorgt sein, dem man sich schwerlich entziehen kann.
Wie fesselnd solche Szenen aber auch wirken mögen – sie sind und sie bleiben Fiktion: In blühendenden Autorenfantasie geboren, einer durchkomponierten Dramaturgie gehorchend, bis hin zum bitteren oder süssen Finale. Mit dem realen Alltag eines hundsgewöhnlichen Menschen (wenn so etwas überhaupt existiert) hat das rein gar nichts zu tun. Denkt man. Behauptet man. Und ist sich halt trotzdem nie ganz sicher. Den einen macht das ein bisschen Angst. Andere macht es neugierig. Bei mir kam beides zusammen. Also entschied ich letzten Sommer spontan, nach Lucca zurückzukehren. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren...
Lucca ist eine toskanische Kleinstadt mit knapp 90 000 Einwohnern. Sie liegt im Tal des Flusses Serchio und 20 Kilometer nordöstlich von Pisa. Was ich nicht wusste, nun aber bei der Recherche durch Wikipedia erfuhr: Im 13. und 14. Jahrhundert zählte Lucca wegen seiner Textilindustrie zu einer der einflussreichsten Städte Europas. Was ich dagegen genau weiss: Die Tage und Wochen, die ich da anno 2002 zwischen Ostern und Juli verbringen durfte, haben das Fundament meines Daseins verändert. Oder als dramatischer Dreiakter formuliert:
Anders als geplant ging bald danach meine Beziehung zu Bruch, dafür küsste ich zum ersten Mal eine meiner Lehrerinnen.
Anders als geplant schrieb ich kein Buch, lernte aber, die Einsamkeitsmomente und Zweifel auszuhalten (und irgendwann gar zu schätzen), die jeden begleiten, der ein Buch schreibt.
Anders als geplant lernte ich leider kein perfektes Italienisch – das war das Primärziel des Aufenthalts – dafür konnte ich nach der Rückkehr unversehens kochen (vor allem Tomatensalat, Ossobuco al forno und Tonno alla siciliana con salsa agli agrumi).
Dass viele Wege nach Rom führen, ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass auch etliche nach Lucca führen. Der schnellste, ab Zürich und mit einem Auto absolviert (Dauer je nach Verkehr zwischen fünfeinhalb und sieben Stunden): Gotthard-Chiasso-Milano-Parma-Passo della Cisa-La Spezia-Viareggio-Lucca. Man kommt aber auch mit dem Zug hin. Und mit dem Fahrrad, was allerdings deutlich länger dauert. Ich kam das allererste Mal per Zufall. Ich wollte nämlich im Frühling 1999 für paar Tage nach Florenz, um endlich mal diesen David zu sehen. Da ich am Morgen des Abreisetags verschlief und mich nachmittags übel verfuhr, stand ich abends nicht vor den Toren von Florenz, sondern an der Porta Santa Maria in Lucca. Und wer erst mal da steht, der will nicht mehr nach Florenz - der will nur noch wissen, welchen «Schatz» man da seit dem Mittelalter mit einer solch immensen Befestigungsanlage zu schützen oder gar zu verbergen versucht.
Intermezzo: Der Bau an diesem erschütternd eindrücklichen Mauerwall begann 1504, abgeschlossen wurde er 1645. Der Baluardo – so der italienische Begriff – ist 4,2 Km lang und umfasst die ganze Stadt. Er weist sechs Eingänge auf, neben der genannten Porta Santa Maria sind das die Porta Sant’Anna, die Porta Elisa, die Porta San Jacopo, die Porta San Pietro und die Porta San Donato. In späteren Ausbauten wurde er um kleine Parkanlagen ergänzt; heute dient er Spaziergängern als schlicht einzigartige Promenade und Picknickzone – und den Velo-verrückten Einwohnern als lockere Trainingstrecke; auch der frühere italienische Radstar Mario Cipollini, der aus der Region stammt und im Giro d’Italia und an der Tour de France etliche Sprintetappen gewann, hat auf der Mauer regelmässig seine Runden gedreht, einmal habe ich ihn gar mit eigenen Augen gesehen.
Es war dann Liebe auf den zweiten Blick, am Morgen nach meiner Ankunft. Am Abend war es bereits zu dunkel, um dieses märchenhafte Milieu, in dem die Zeit irgendwie stillzustehen schien, noch richtig erkennen zu können. Als das Städtchen seine Reize am Vormittag mehr und mehr entblätterte und enthüllte, kokett sein altes Bauwerk und die pittoresken Plätze präsentierte, sich mit dem sinnlichen Duft aus geröstetem Kaffee, Blumen und frischem Marktgemüse parfümierte, wurde ich verführt wie der adoleszente Dustin Hoffman im Film «The Graduate» von der anachronistisch schönen Anne Bancroft. Also wollte ich mehr. Und fuhr Monate später wieder hin. Und wieder. Und gleich noch einmal.
Am Anfang fand ich es umwerfend, mich italienisch schlendernd durch die Via Fillungo zu konsumieren (das ist quasi die Kleinstadtübersetzung der Fifth Avenue, ein pompöses Strässchen mit schicken Klamottenboutiquen, teuren Cafés und anderen touristischen Geldentsorgungseinrichtungen). Im Kanon mit dutzenden anderen klickenden Kameras auf der Piazza Anfiteatro ein Panorama-Foto zu versuchen. Vom Torre Guinigi – das ist der nicht übersehbare Turm, auf dessen Aussichtsdach wahrhaftig Steineichen wachsen – in die Gassenlandschaft hinab zu blicken. Und danach in der Trattoria da Leo Pizza zu mampfen und Schaumwein zu trinken. Sprich all das zu tun, was man in Lucca tut, wenn man Lucca nicht kennt.
Doch es wurde besser und besser. Vergleichbar mit dem Jungkater, der sich, sobald er richtig laufen kann, erste und oft herrlich eigenwillige Lieblingsplätze erpirscht, fand ich ein Stammcafé. Es war nicht hübsch und nicht sonnig. Chefin Elsa, vermutlich schon bald nach der Jugend ziemlich endgültig verblüht, keifte dauernd mit ihrer betagten Mutter. Doch der Café latte und der Succo di Pera mundeten so, wie das Zeugs in Italien nun mal zu munden hat, dazu lag stets eine Gazzetta dello Sport herum, vor allem aber zeigten mit die zwei Frauen unverblümt, dass sie mich mochten – was ein Fremder, wo immer er strandet, nie als selbstverständlich erachten darf. Bald darauf entdeckte ich auch ein Studiokino, dann die gut versteckte Osteria del Neni und damit den besten Weinkeller der Stadt. Ich fand auch den Velohändler meines Vertrauens, gar einen Plattenladen.
Und Lucca bescherte mir dann doch auch noch eine Liebe auf den ersten Blick: das schlichte, aber liebenswürdig geführte Affitacamere San Frediano. Ich stieg fortan bei jeder Wiederkehr in dieser Loge ab (deren grösste «Attraktion» war der Blick vom Zimmerfenster aus auf eine Mauer, an der Weltformat-Plakate klebten, auf welchen die gerade angesagten einheimischen Topmodels für Produkte warben, welche die Welt nicht wirklich braucht; ich muss aus männlicher Sicht gestehen: so direkt nach dem Aufstehen, noch mit Schlaf in den Augen, gibt es fürwahr schlimmere Anblicke), und als der Zeitpunkt gekommen war, halfen mir die zwei charmanten Signoras des San Frediano, an der Via San Nicolao ein Zweizimmer-Appartement zu organisieren.
Als ich am Karfreitag des Jahres 2002 mit dem heillos überpackten Auto in Lucca einfuhr, war es, als ob ich nach Hause kommen würde. Und als ich Mitte Juli, zwei Wochen nach Abschluss der Fussball-WM, zum letzten Mal die Haustüre an der Via San Nicolao hinter mir zuzog und ins nun rettungslos überpackte Auto stieg, hatte ich Tränen in den Augen.
Ich war mir in diesem schweren Moment sicher, eines Tages in Lucca zu heiraten. Und eines ferneren Tages hier den Lebensabend zu beginnen. Zudem würde ich ja bereits in zwei oder allerhöchstens drei Wochen wieder herkommen. Und mit Schulkollegin Lara, bei der ich mein Velo deponierte, neue Vokabeln lernen. Auf Milchkaffees, Birnensäfte und Gazzetta-Lektüren (wenigstens die Headlines, die gingen knapp) zu Elsa gehen. Im Plattenladen – der Name des Inhabers ist mir inzwischen entfallen – die rare «Disc-8»-Maxisingle «Freedom» abholen, die er für mich extra aus Mailand hatte kommen lassen. Im «Cinema Italia» die schon seit Wochen angekündigte Visconti-Reihe anschauen. Im del Neni an «meinem» Tischchen in der Mauernische hocken, die Dorade im Salzmantel und die Weinempfehlung des Hauses geniessen. Später im Fellini-ähnlichen Ambiente des Ristorante Antico Caffè delle Mura ein paar Grappa zu viel kippen, wie wir es fast jeden Freitagabend getan hatten. Si, exakt so würde das sein. Ich wischte die Tränen weg, startete den Motor, und fuhr auf und davon.
Doch es kam anders. Denn es kamen eine Wirtschaftskrise, eine Beziehungskrise, eine Sinnkrise. Am Ende der Krisen hatte mich der elende Alltag längst wieder verschluckt, durchgekaut und als typischen Zürcher ausgespuckt. Wäre ich in diesem Zustand nach Lucca gefahren, hätte ich die Integrität meines dortigen Lebensabschnitts verletzt, das entstandene Heimatgefühl verloren. Also liess ich es bleiben. Und das war gut so.
Obwohl die realen Bilder über die Jahre hinweg Patina ansetzen und jene in der Erinnerungen immer dünner und löchriger wurden. Das ging soweit, dass ich irgendwann nicht mal mehr mit Bestimmtheit wusste, ob ich meine Italienischlehrerin Paola in jener Nacht, als wir von der Mauer herab den magischen Tanz der Glühwürmchen bewunderten (die Tierchen heissen auf Italienisch übrigens «Lucciola», und so wie Paola dieses Wort artikulierte, nun, das war, ääh…ich schweife ab), wirklich geküsst oder bloss davon geträumt hatte.
Dennoch war mein Lucca nicht gänzlich erodiert, denn die Lebensschule, die ich dort besucht hatte, begann sich langsam bemerkbar zu machen. Konkret: Ich schaffte es tatsächlich, ein erstes Buch zu schreiben, und danach gar noch ein zweites. Und zwei- oder dreimal bekam ich auch die grosse Aufgabe übertragen, am Heiligabend für die ganze Sippe das Festessen zuzubereiten. Vor allem aber schaffte ich es fortan häufiger, auch mal innezuhalten, man könnte fast sagen: Ich hatte so etwas wie eine innere Ruhe gewonnen.
So zogen die Jahre ins Land, und Lucca entfernte sich immer mehr, auf jeden Fall mehr als die rund 570 Kilometer, die es tatsächlich entfernt ist. Und dann kam der Juni 2014. Ich fuhr nach Elba, genauer nach Capoliveri. Fürs erholende Sonnenbad, um WM-Spiele zu schauen, und um im Ristorante «Chiasso» Tafelfreuden zu geniessen, wie man sie nicht an vielen Orten im «bel paese» geniessen kann; auch nicht in der Osteria del Neni, um offen zu sprechen. Doch das Wetter war mies. Noch mieser war der Einsatz der «squadra azzurra», meinem erklärten Lieblingsteam. Im «Chiasso» war das Essen zwar formidabel, dafür war die Stimmung miserabel – Luciano, der Capo, klagte bei jedem Besuch noch inbrünstiger über das finanzkrisenbedingte Ausbleiben seiner Stammklientel vom Festland.
Zur Aufhellung des Gemüts vertiefte ich mich in Bücher und schaute auf dem Laptop TV-Serien – und, Zufall oder Schicksal: Überall wurden Helden und Antihelden mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Das führte dann eines Abends während dem Primo zu einem speziellen Gedanken: Was, wenn ich die Ferien spontan um zwei Nächte verlängern und auf der Rückfahrt in Lucca eine Stippvisite machen würde? Am folgenden Morgen hatte sich der Gedanke zur fixen Idee erhärtet: Ich buchte eine Unterkunft (es war nicht das San Frediano, dort war es zu einem Besitzerwechsel gekommen, der alte Charme sei verschwunden, hiess es, und das konnte und wollte ich mir nicht antun), drei Tage später war es soweit: Ich passierte am Sonntagmittag das örtliche Fussballstadion Porta Elisa (und erinnerte mich sofort wieder, dass ich dort mal ein wüstes Derby der AS Lucchese gegen La Spezia mit drei oder vier roten Karten erlebt hatte), checkte im Hotel ein und trampte bald mit dem Velo los in Richtung Innenstadt.
Als ich kurz darauf die Via Fillungo entlang radelte, erwischten mich die Gefühle wie der Hinterhaltschuss eines Snipers: Völlig unerwartet und mitten ins Herz. Es schien, als würde jener unsichtbare Damm brechen, der mich in den zwölf Jahren vor Sehnsüchten und Melancholien, vor Entzückungen und Tristessen bewahrt oder beschützt hatte, wie immer man das sehen will. Und nun war alles aufs Mal da, mit- und durcheinander, in einer Heftigkeit, von der ich nicht wusste, dass ich dazu überhaupt noch fähig war.
Ja, da kullerte ein bisschen salzhaltige Körperflüssigkeit aus den Augen (was hinter der Sonnenbrille gut verborgen blieben). Aber da war auch ein inneres Jauchzen, gefolgt von Wehmut, gefolgt von einer solch extremen Lust aufs Leben, dass ich vor lauter Freude mitten am Nachmittag Rotwein trinken musste. In keinem Roman, keinem Film und keiner Serie hatte ich eine solch aufwühlende Berg- und Talfahrt geschildert bekommen. «Die Realität schreibt eben immer noch die besseren Geschichten als die Fiktion», das war der letzte Gedanke, den ich dachte, oben auf der Mauer, an einen schattigen Baum gelehnt – dann schlief ich ein.
Da die Osteria del Neni am Sonntag geschlossen war, ging ich ins Ristorante Antico Caffè delle Mura. Die Terrasse, die stets Bilder aus «Amarcord» und «E la nave va» wach riefen, war unverändert, das Essen gar weit raffinierter, als es früher war. Der Wirt jedoch war neu, genauso wie sein Bruder, der begnadete Koch. Sie seien aus Florenz gekommen und nun mit aller Kraft daran, das einzigartige, über die Jahre aber etwas verluderte Lokal neu zu positionieren, erklärte mit der Wirt beim Apéro. «Vor zwei Wochen hatten wir hier draussen eine Promi-Party, 300 Gäste, auch Heidi Klum war dabei.» Er holte das Smartphone hervor und zeigte sichtlich stolz ein paar Fotos von Klum. In dem Moment wurde mir erstmals bewusst klar, dass die Mär von der Zeit, die stehen bleibt, nicht mal mehr in Lucca Gültigkeit hatte.
Am nächsten Tag machte ich mich – ausgeschlafen und durchs Frühstück frisch gestärkt – mit dem Fahrrad erneut auf in die Stadt. Zuerst wollte ich bei Elsa vorbeischauen (ob sie mich noch erkennen würde?), danach zu meiner ehemaligen Wohnung radeln, rasch im San Frediano vorbeischauen, im Plattenladen endlich meine «Disc-8»-Scheibe holen (falls sie wundersamerweise noch dort sein sollte), später ins Kino und abends in die Bar «Blue», wo ich mich damals, in jenen süssen Lucca-Tagen, stets mit den Freunden getroffen hatte, ohne Verabredung, es waren sowieso immer alle da. Ein volles und ein gutes Programm.
Ich radelte die Via Cenami hinunter und bog rechts ab zur kleinen, namenlosen Piazza, auf der jeweils der Flohmarkt stattgefunden hatte, und, viel wichtiger, auf der sich das Café von Elsa befand. Oder genauer: befunden hatte. Es war nämlich weg. Und zwar radikal weg! Da, wo früher die Gartentische standen, war nun ein blaues Auto, der einstige Eingang zum Lokal war verdeckt durch einen stellenweise verrosteten und mit zwei schlechten Graffiti-Tags «verzieren» Metallrolladen. Einzig der vergilbte und eingerollte Sonnenstoren über dem Rollladen erinnerte daran, dass hier genügsame Menschen auf die beste aller Arten ihre Zeit verplempert hatten.
Ein – pardon, das Wort ist stark, ich weiss – grausamer Anblick. Und es würde nicht der letzte bleiben an diesem Tag. Auch der Plattenladen und das «Cinema Italia» waren nicht mehr, in den Schaukästen des Filmtheaters war zu lesen: «Chiuso per lavori» – was im heutigen Italien faktisch einer Todesanzeige gleichkommt. Immerhin zeugten beim Plattenladen und beim Kino die Räume und Eingänge davon, dass sie einst existiert hatten. Bei der Bar «Blue» jedoch, dem einst fidelen und lauten Epizentrum des jungen Lucca, waren alle Spuren ausradiert worden, die einstige Bar war zu einer Wohnung umfunktioniert worden.
Als ich bald darauf an der Via San Nicolao und damit vor «meiner» Wohnung stand – die Läden waren zu, ein Blick hinein unmöglich – überkam mich ein eigenartiges Gefühl aus Traurigkeit und Befreiung. Vielleicht so ähnlich, wie wenn man ein starkes, packendes Buch, das einen lange begleitete, oft beglückte und bisweilen verstörte, zu Ende gelesen hat. Allerdings mit dem Unterschied, dass bei meiner Geschichte über Lucca plötzlich etliche Kapitel fehlten, weil sie jemand umgeschrieben oder gar herausgerissen hatte.
Ich speiste später in der Osteria del Neni, aber keinen Salzmantelfisch. Als ich danach das Velo zum Affitacamere San Frediano dirigiert hatte (das nicht mehr mit «Affitacamere San Frediano» angeschrieben war), merkte ich rasch genug, dass ich da vernünftigerweise gar nicht erst hineingehen musste, schöner als die verblasste Erinnerung würde es sowieso nicht sein. Wenigstens, und das war dann doch ein freudiger Moment, klebte an der Mauer vis-à-vis meines damaligen Zimmerfensters tatsächlich wieder eine italienische Bellezza, die ein Ding bewarb, das die Welt nicht braucht. Es gibt eine Rückkehr, aber selten einen Weg zurück, philosophierte ich an dem Abend.
Am nächsten Morgen spürte ich eine angenehme Ruhe. Es war dieselbe Ruhe, die sich meiner damals häufig bemächtigte, damals, am Ende der dreieinhalb Monate im Jahr 2002. Eine Ruhe, die mir Musse gönnte und Tagträume gestattete. Und die nun alte, schlummernde Erinnerung aufweckte. Und so wusste ich es jetzt wieder mit Gewissheit, als ich da oben auf der Mauer stand und auf die unten liegenden Rinnsale hinabblickte, an deren Ufern wahrscheinlich noch heute die Glühwürmchen tanzen: Ja, wir hatten uns in jener Nacht wirklich geküsst, Paola und ich.
Am Abend – es war der 24. Juni – küsste dann Uruguays Starstürmer Luis Suarez auch ziemlich leidenschaftlich die Schulter von Italiens Verteidiger Giorgio Chiellini (die einen behaupteten, es sei eher ein Biss als ein Kuss gewesen), was, je nach Sichtweise, der Höhe- oder der Tiefpunkt eines schlechtes Matches war. Die Südamerikaner entschieden die Partie mit 1:0 für sich, für Italien war die WM vorbei. Und für mich war Lucca vorbei.
Fotos: Thomas Wyss / DER Touristik Suisse AG