Wir irren nun schon fast eine Stunde planlos durch das Strassenlabyrinth Managuas. Alle paar hundert Meter gibt es eine Abzweigung in ein «barrio» (Stadtquartier), doch weit und breit ist kein richtiges Strassenschild zu sehen. Die zweispurige Strasse ist dicht befahren. Auf der rechten Fahrbahn röhrt ein riesiger Truck. Einer der Kolosse, welcher der Panamericana mit scheinbar stoischer Gelassenheit zu seinem fernen Ziel in Costa Rica oder Panama folgt. Manche sind alt, rostig, von einer dicken Schmutzschicht überzogen. Bei anderen glänzt der polierte Lack und die silbernen Chromstahlrohre blitzen im Sonnenlicht. Dazwischen immer mal wieder ein alter, farbiger amerikanischer Schulbus. Die Busse werden hier als öffentliche Verkehrsmittel eingesetzt, vollgepackt bis unters Dach mit Menschen und Gepäck. Ich entdecke auch eine Holzkarre, vor der zwei Ochsen trotten. Daneben reitet ein Mann mit einem sonnengegerbten Gesicht auf einem nervös tänzelnden Pferd.
Auf der linken Spur fahren wir und alle anderen grossen, klimatisierten Privatautos mit Vierradantrieb und getönten Scheiben. An einem Rotlicht lachen uns perfekte Ananas von einem Holzgestell an. Von einer freundlich lächelnden Frau, die mit ihrem Tablett gewandt durch die stehenden Autos geht, erstehen wir zwei der kunstvoll aufgeschnittenen Früchte. Die Sonne brennt vom Himmel und der süsse Duft der tropischen Früchte breitet sich langsam im Innern des Autos aus.
An einer Tankstelle beschliessen wir nun doch nach dem Weg zu fragen. Nach wie vor fehlt jede Spur von hilfreichen Strassenschildern, die wir mit unserer Karte hätten vergleichen können. Der kleine Wachmann, dessen riesiger Bauch beinahe seine graue Uniform zu sprengen scheint, grinst mir zahnlos zu. Nach einer kurzen Besprechung mit dem Tankwart scheint er sich sicher, dass wir die zweite Kreiselausfahrt nehmen und dann einfach immer geradeaus fahren müssen. Tatsächlich, nach einigen weiteren Kreiseln lichtet sich der Verkehr — wir sind dem Moloch Managua entkommen.
Unser erstes Ziel ist Playa Maderas. Wir rollen behutsam die steile Strasse durch den wilden Wald Richtung Strand hinunter. Durch das dichte Blätterdach der alten Bäume strömt das warme Licht der Nachmittagssonne. Das Verkehrschaos Managuas scheint Lichtjahre entfernt zu sein. Bereits nach den ersten Schritten im Sand erfasst uns die Magie des Ortes. Die kleine Bucht im Schosse der bewaldeten Hügel lädt dazu ein die Seele baumeln zu lassen. Wir holen an der Bar einen bunten Cocktail und setzen uns an den Strand. Eine Gruppe junger Einheimischer spielt Volleyball und zwei Kinder planschen im warmen Wasser unter dem wachsamen Blick ihrer Mutter. Der Himmel brennt orangerot. Während die Sonne langsam hinter den Steinen im Wasser versinkt, jongliert ein Mann kunstvoll mit zwei Holzstöcken.
Zu Fuss machen wir uns vom Strand zur Maderas Village auf, denn wir sind zum Family Dinner beim New Yorker, Matt Dickinson alias «Dickie», eingeladen. Von weitem scheinen die Lichter warm aus den grossen Holzhäusern in den nächtlichen Wald. Dickie hat vor einigen Jahren mit zwei Freunden ein Stück Land am Hang von Playa Maderas gekauft und ein kleines Dorf aus Villas mit riesigen Palmdächern für Familie und Freunde gebaut. Wir setzen uns an den langen Holztisch und werden sofort in Gespräche mit unseren Nachbarn verwickelt. Neben mir sitzt eine junge, angesagte New Yorker Schriftstellerin. Auf der anderen Seite ein junges Paar, die beide bei der UNO arbeiten. Maderas Village ist ein Ort für «doers and thinkers» wie auf der Homepage zu lesen ist. Menschen aus der ganzen Welt kommen hierher, um auszuspannen oder sich von der unberührten Natur inspirieren zu lassen.
Nach einigen Tagen brechen wir auf und reisen ein Stück in Richtung Norden. Die unasphaltierte Landstrasse wird an beiden Seiten von dicken Holzpfosten mit rostigem Stacheldraht flankiert. Auf der Weide grast eine grosse Kuhherde. Unter dem einzigen schattenspendenden Tamarindo-Baum stehen zwei magere Pferde. Jetzt, nach der Regenzeit, gibt es genug Gras für die Tiere. Das ist aber nicht immer so. Ein Bauer, den ich auf einem Spaziergang treffe, erzählt mir, dass früher ungefähr alle sechs, sieben Jahre eine Dürre über das Land hereinbrach. Es blieb den Bauern nichts anderes übrig, als ihre ganze Herde — bis auf die allerstärksten Tiere — notzuschlachten, um dann nach der Regenzeit wieder mit der Aufzucht zu beginnen. Heute kämen die Dürren in immer kürzeren Abständen.
Alle paar Kilometer passieren wir einen Weiler. Bemalte Häuser aus Beton, Häuser mit Wellblechdächern und einfache Holzhütten säumen die Strasse. Wir halten kurz an, um eine Flasche Wasser zu kaufen. Eine schwarzhaarige Frau mit grossen, mandelförmigen Augen knetet in einem grossen Eimer ihre Wäsche. Ihre Tochter hängt die sauberen Kleider an einer Wäscheleine auf. Wie farbige Fahnen in allen Grössen — vom grossen XL T-Shirt des Vaters bis zum Strampler des kleinsten Mitglieds der Familie — tanzen sie im Wind, der von den grossen Seen im Landesinneren unentwegt Richtung Meer bläst. Ich entdecke eine Gruppe Schweine, die sich gemütlich im Schlamm suhlen. Ein prächtiger Hahn und seine Gefährtinnen picken zwischen den Häusern Körner. Grosse Fischernetze hängen wie überdimensionale Spinnweben zwischen den Bäumen. Ein Fischer prüft sorgfältig Netz für Netz und flickt die Löcher mit blauem Faden.
Als wir in die Einfahrt der Hacienda Iguana, dem Golfclub bei Playa Colorado, einbiegen, beginnt eine andere Welt. Wir besuchen Anny und Tom, ein kalifornisches Paar, dass sich vor drei Jahren eine Wohnung im Golfclub gekauft hat. Eine Oase zwischen gepflegten Grünflächen und den ursprünglichen Wäldern, aus welchen am Morgen das berühmte Grollen der Brüllaffen ertönt. Anny ist Künstlerin und fertigt bis ins kleinste Detail bemalte Skulpturen aus Schwemmholz an. Tom baut eine Bierbrauerei im Nachbardorf auf, spielt Golf und schwingt sich ab und zu auf sein Surfboard. Die wirtschaftliche Entwicklung, der Tourismus und der damit verbundene Boom des Immobilienmarktes setzten in Nicaragua erst vor rund zwanzig Jahren ein. Davor hielt der Konflikt zwischen den Sandinisten und den von den USA unterstützen Contras das Land in Atem und damit westliche Investoren fern. Jetzt boomt die Region, Nicaragua scheint das neue Costa Rica zu werden. Überall schiessen Hotels, Boutiquen, Kaffees und Restaurants im westlichen Stil aus dem Boden.
Ein weiteres Mal schnallen wir unsere sieben Sachen auf den Pickup und fahren weiter in den Norden in die Region Chinandega, wo wir die letzten Tage unserer Reise verbringen werden. Wie so oft ist der Weg das Ziel. Wir stehen beeindruckt am Rande des grossen Süsswassersees Managuas. Er ist nicht nur die Heimat verschiedener Buntbarscharten, sondern auch der einzige Süsswassersee, in welchem grosse Bullenhaie zu Hause sind. In der Ferne, hinter dem vom Wind aufgewühlten grün-braunen Wasser, erheben sich die beiden Vulkane Momotombo und Momotompito. Die Küste wird vom Süden bis in den Norden von Vulkanen gesäumt. Eine Perlenkette aus Lava die entlang des Pazifiks verläuft.
Als wir uns Chinandega nähern, verändert sich die Landschaft. Die fruchtbaren Böden und das günstige Klima ermöglichen den Anbau von Orangen, Zuckerrohr, Bananen und Baumwolle. Kurz vor Chinandega befindet sich Chichicalpa, wo eines der Wahrzeichen Nicaraguas hergestellt wird — der Flor de Cana — das flüssige Gold Nicaraguas. Die Geschichte des Rums reicht bis 1890 zurück. Heute wird das Unternehmen von der fünften Generation der Pellas Familie geführt.
Im Süden des Landes und rund um Managua trifft man an der Küste oft auf furchige Riffe. Messerscharfe Steinkanten, umspült vom warmen Wasser, das zwischen dem braunen Stein wie flüssiges Quecksilber schimmert. Hier im Norden prägen schwarze Sandstrände das Landschaftsbild. Wir breiten unsere Strandtücher aus und lassen den Tag mit einem Glas Flor de Cana aus der mitgebrachten Kühlbox ausklingen. Eine wilde Pferdeherde kommt an den Strand um aus dem Flusslauf zu trinken und sogleich wieder im Dickicht hinter den Sanddünen zu verschwinden. Zwischen August und Dezember landen tausende Meeresschildkröten an der Küste Nicaraguas und vergraben ihre Eier im Sand. Nach einigen Wochen Brutzeit schlüpfen die Minischildkröten und versuchen danach so schnell wie möglich ins Meer zu gelangen. Doch dieser natürliche Zyklus wird seit kurzem auch in Nicaragua gestört. Oft treffen die Schildkröten auf einen verbauten Strand oder finden, irritiert durch die Beleuchtung einer Hotelanlage, den Weg zum Wasser nicht. Eine uralte Tierart trifft auf unsere moderne Welt – Ausgang ungewiss. Ich nehme noch einen Schluck des vollmundigen Rums und es scheint mir, dass dies nicht nur für die gepanzerten Meeresbewohner, sondern für ganz Nicaragua gilt.
Fotos: Alejandra Romo