Der Winter in Island kann sich inszenieren, als wäre er Teil einer Filmkulisse. Die Insel überrascht mit atemberaubenden Himmelsfarben, hohen Chancen auf Nordlichter, aktiven Orcas und heissen Quellen. Traumhafte Entspannung garantiert.
Es blubbert, brodelt und zischt. In den pink-violett gefärbten Abendhimmel steigen dichte Dampfsäulen; weit und breit weilt keine Menschenseele. Die Thermalquelle Deildartunguhver ist kaum ausgeschildert und daher nicht vielen Touristen bekannt. Auch ich finde nur dank der pantomimischen Erklärung eines Isländers hierhin: Nach der Brücke links, am roten Holzhaus vorbei, dem Lavafeld entlang. In Gedanken sehe ich mich schon im Naturpool liegen und entspannen, umgeben von Lavafeldern, Schnee und Eis. Aber wenn Isländer von «heissen Quellen» reden, dann von jenem Ort, wo ihre Energie entspringt. Und da will keiner mehr baden.
100 Grad heiss schiesst das Wasser aus der Thermalquelle, schon seit 1925 wird es zur Gebäudeheizung verwendet. Vor mir erstrecken sich lange Rohrleitungen. Sie transportieren die Energie bis zu 74 Kilometer weit nach Hvanneyri, Borgarnes und Akranes. Am Zielort misst das Wasser noch zwischen 65 und 77 Grad. «Heisses Wasser in Island ist das billigste der Welt», vermutet Gislí Olafsson, Touristenführer, geboren und aufgewachsen in Island. Tatsächlich schiesst es auf der ganzen Insel fast überall aus dem Boden. Im Südwesten beispielsweise auch im Ort Geysir oder auf der Halbinsel Reykjanes. Rund um Reykjavík werden damit im Winter Trottoirs, Schwimmbäder und Teile des Flughafens beheizt, und in manchen Hotels sprudelt es direkt aus dem Wasserhahn. Zugegeben, der Nase schmeichelt das schwefelhaltige Wasser eher weniger — dafür ist es gesund und gut für die Haut.
Am nächsten Morgen lasse ich doch noch die Hüllen fallen. Der Wind bläst über das Hotel Glymur, Schnee wirbelt auf und die Sonne kriecht langsam hinter dem Walfjord hervor. Es ist 10 Uhr, Dämmerstimmung — für isländische Verhältnisse noch früh am Morgen. Mit Bademantel und Wollmütze schleiche ich über den Steg zum hoteleigenen Hotpot. Barfüssiger Kontakt zu Schnee und Eis lässt sich nicht vermeiden, ist aber schon wenig später vergessen, als ich im Bikini im gut 37 Grad warmen Wasser sitze, zurücklehne und das Farbenspiel am Himmel beobachte. Gelb mischt sich mit Blau und Orange. Zartes Rosarot schimmert zwischen den wattebauschigen Wolken hindurch. Der Himmel inszeniert sich, als wäre er eine Filmkulisse. Kein Wunder, hat mittlerweile sogar Hollywood nach Island gefunden: Manche Abenteuer der Erfolgsserie «Game of Thrones» wurden hier im Norden und Süden der Insel gedreht. Noch windet es zu stark, um aufzubrechen. Also versenke ich meine leicht kühlen Schultern im warmen Hotpot, lege die Sonnenbrille griffbereit und geniesse meinen persönlichen Blockbuster am Horizont. In Island gibt es auch zahlreiche natürliche Bäder, zum Beispiel im Víti-Krater oder in einem Bach im Reykjadalur. Die Temperaturen messen je nach Ort zwischen 20 und 60 Grad. Wer also an unbewachter Stelle in eine heisse Quelle steigt, sollte sich vorsichtig herantasten. Einige der Quellen liegen aber im Hochland, das im Winter nicht befahrbar ist. Die bekanntesten Bäder, die Blaue Lagune zwischen Reykjavík und Flughafen sowie das Naturbad Mývatn im Norden der Insel, haben ganzjährig geöffnet. Allerdings sind sie auch ganzjährig sehr gut besucht — pro Tag stoppen mehrere Busse.
Während ich am Walfjord noch immer der Stille lausche, kippt einige Kilometer weiter südlich ein Lastwagen von der Strasse. Später wird mir eine Isländerin sagen, dass solche Unfälle — verursacht durch den starken Wind — vor allem Fremden passieren. Isländer wissen, wo sie Wettervorhersagen abrufen können, und sie wissen diese einzuschätzen. Am Flughafen Keflavík hat man sich an den Wind sogar angepasst: Es gibt zwei Start- und Landebahnen in zwei verschiedenen Windrichtungen. Dies erlaubt es den Isländern, selbst bei grossen Windstärken den Flugplan einzuhalten.
Ich merke, wie die Fahnenstangen weniger wanken, greife rasch nach meinem Bademantel und husche schnell ins warme Hotelzimmer. Es ist Zeit, aufzubrechen.
Die Wetterkapriolen habe ich in den letzten Tagen selber kennengelernt: Plötzlicher Schneesturm, Sonne von morgens bis abends, unerwartetes Gewitter. Es ist der Wind, der für die schnellen Wetteränderungen sorgt. Somit stehen die Chancen gut, dass sich während eines Islandaufenthalts auch einmal die Sonne zeigt. Während der dunkelsten Jahreszeit zwischen Anfang und Ende Dezember kommt die Sonne zwar nur kurz über den Horizont, aber die schönsten Dämmerstimmungen zeichnet sie allemal an den Himmel. Nicht zu vergessen die Nordlichter: Im Hotel Framnes in Grundarfjörður reisst mich in der nächsten Nacht um 2 Uhr früh ein Gepolter aus dem Schlaf. Mit den Worten «Northern Lights!» werden alle Hotelgäste geweckt, die sich in die Nordlichtliste eingetragen hatten. Wenige Minuten später stehe ich sprachlos vor der Tür auf dem hoteleigenen Parkplatz und bestaune das funkelnde Grün am Sternenhimmel. Von den Bergen übers Meer bis hinters Hotel zieht sich das Naturspektakel. Mein erstes Nordlicht! Orca-Forscherin Marie-Thérèse Mrusczok mag den isländischen Winter am liebsten. «Dann ist es ruhiger auf der Insel.» Vor allen Dingen aber tummeln sich an den Ufern der Halbinsel Snæfellsnes von Januar bis März viele Schwertwale. Ein Paradies für die Deutsche, die vor eineinhalb Jahren hierhin ausgewandert ist.
Marie treffe ich das erste Mal am Kolgrafafjörður. Hier führt eine Brücke in Richtung Grundarfjörður, wo sie wohnt. Die 27-Jährige hat ihre blaue Kapuze tief ins Gesicht gezogen, der Schal bedeckt Kinn und Mund.
Sie klatscht in die Hände, hüpft vom einen aufs andere Bein, die Augen leuchten. «Soeben sind eine Orca-Mutter und ihr Kind vorbeigeschwommen. Ungefähr zehn Meter neben mir!» Marie hat frei, meistens arbeitet sie aber bei Láki Tours, die auch Waltouren anbieten. Fast jede freie Minute verbringt sie mit Fernglas und Kamera in den umliegenden Fjorden. Stundenlang tummeln sich die Killerwale im Kolgrafafjörður, während die Sonne langsam durch die Wolkendecke bricht und mit Orange bis Rosarot einmal mehr die Landschaft in Szene setzt.
Zu Höchstzeiten jagen an diesem Tag 27 Orcas in fünf Gruppen nach Heringen. Marie und ich wissen nicht, wohin schauen, wo fotografieren. Überall schiessen Basstölpel ins Wasser — ein Hinweis dafür, dass dort Orcas nach Heringen jagen: Die Meeresvögel profitieren vom Jagdgeschick der Schwertwale. Am Horizont bilden fünf Orcas eine Linie: die Resting Line. Sie bedeutet, dass die Tiere sich ausruhen, schlafen. Bei den Orcas wird eben alles in der Gruppe gemacht. Links und rechts ragen die Finnen aus dem Wasser, von Schwertwalen, die gerade atmen. «Maximal 5 Minuten schaffen es die Orcas, hier unter Wasser zu bleiben, dann müssen sie Luft holen», sagt Marie. Und direkt unter uns springt plötzlich eine Gruppe hoch über die Strömung, unter der Brücke durch, auf die andere Fjordseite. Zum ersten Mal in meinem Lebe sehe ich frei lebende Orcas. Nicht bejagt, bedrängt oder bedroht. Freiwillig, aber doch in sicherer Entfernung zum Mensch, kommen sie uns ganz nah. Für Marie ist es etwa der tausendste Orca, den sie sieht. Und doch bringt sie nicht mehr heraus als «oh mein Gott!». Orcas sind in Island geschützt. Dieses Glück haben nicht alle Wale: Minkwale werden von Reykjavík aus gefangen und getötet, um sie als Spezialität Islands zu verkaufen. «Aber Walfang hat keine Tradition in Island, das hat erst nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen», erzählt Marie. «Das wird den Touristen einfach als Spezialität verkauft.» Das Problem sei jedoch, dass viele Isländer Wale nicht essen würden, so haben die Walfänger versucht, die Wale an Japan zu verkaufen. «Aber die haben ja selber genug Walfleisch.» Wer sich in Island mit den Walen solidarisieren und Walfänger boykottieren will, tritt der Walschutzorganisation bei. An Restauranttüren symbolisieren die Aufkleber «Meet us — don't eat us», dass hier kein Wal auf den Teller kommt.
Marie verbringt nun die dritte Saison in Grundarfjörður und hat nicht im Sinn, in absehbarer Zeit nach Leipzig zurückzukehren. Freunde und Familie sieht sie jeweils in der Nebensaison zwischen April und Mai oder September und November, wenn sie nach Hause fliegt. Ihre Karriere als Orca-Forscherin bezeichnet sie als Aufstieg «vom Tellerwäscher zum Millionär». Schon als Kind habe sie davon geträumt, mit Schwertwalen zu arbeiten. Aber erst mit dem Master-Studium in Europarecht kam sie diesem Vorhaben bedeutend näher. Während eines Auslandsemesters in Kanada ergatterte sie sich ein Praktikum bei einer Walschutzorganisation und sorgte dafür, dass Orcas bei Beobachtungstouren nicht bedrängt oder bedroht wurden. Nach Island kam sie schliesslich dank eines Geheimtipps — «noch nie zuvor hatte ich gehört, dass es auf Island Orcas gibt». Auch hier setzt sie sich seither für den Walschutz ein.
Um die Orcas noch besser zu sehen, gehe ich mit Láki Tours auf eine Walbeobachtungstour. Aber schon vor der dreistündigen Fahrt erklärt Marie der Gruppe, dass sich die Tiere manchmal ziemlich gut verstecken. Immerhin: Wenn sich keine Orcas zeigen würden, dann vielleicht Weissschnauzendelfine, Kormorane, Robben oder einer von 400 Seeadlern, die hier noch leben. Es wird heisse Schokolade ausgeschenkt, der Wind versenkt meine Handschuhe im Meer und es regnet Eis die Reling hoch. Doch Tiere zeigen sich keine. «Das ist selten», sagt Marie leicht enttäuscht. Aber: «Das ist halt die Natur.» Überraschung pur.
Später im Hotel Framnes in Grundarfjörður schlürft Gislí Olafsson eine Kürbissuppe. Der 800-Einwohner- Ort ist sein Zuhause; hier ist er Hausbesitzer, Hotelmanager und Inhaber von Láki Tours. Als waschechter Isländer plant er nur das Nötigste (weil die meisten Pläne wegen des Wetters ohnehin nicht eingehalten werden können) und nimmt alles mit der Ruhe. Fast alles. Als gegen 15 Uhr das Tageslicht dunkler wird, löffelt er schnell noch die Suppe aus, rennt zum Auto und bedeutet mir und Marie, dass wir aufbrechen sollen. Auch hinter dem Steuer entpuppt sich Gislí als eingefleischter Isländer: Egal wohin, er fährt bestimmt doppelt so schnell wie jeder Tourist. Wir sind unterwegs zum Leuchtturm am Ende der Halbinsel Snæfellsnes — Gislís Lieblingsort. Pünktlich zur Dämmerung hat es die Sonne geschafft, durch die Wolkendecke zu brechen. Sie blinzelt hinter dem Gletscher Snæfellsjökull hervor, scheint auf Kirchen und Meer, beleuchtet gefrorene Wasserfälle. Die Landschaft wechselt stets: schwarze Lavafelder unter weissem Schnee, dazwischen grüne Moosflächen und lange Sandstrände, mal flach bis an den Horizont, mal von Bergen durchzogen. Das ist Snæfellsnes. Wegen ihrer Vielfalt wird die Halbinsel auch als «Island en miniature» bezeichnet — sie zeigt im Kleinen all das, was ganz Island im grossen Stil zu bieten hat. Und vor allem: kaum Bäume. Darum hat der Wind hier so leichtes Spiel.
Für meine letzte Nacht in Reykjavík ist wolkenfreier Himmel angesagt, plus eine hohe Nordlichtaktivität. Weil in der Stadt aber die Lichtverschmutzung zu gross ist und darum das Polarlicht verblasst, buche ich noch vom Hotel aus eine Nordlichttour. Um 20 Uhr werde ich abgeholt. Der Buschauffeur stellt sich mit einem Namen vor, den sich ohnehin niemand merken kann, und sagt dann: «Ich bin Gummi». Gummi fährt unsere Elfergruppe auf einen Pass. Im Thingvellir-Nationalpark, auf 280 Metern, erreichen wir unser Ziel und starren Löcher in den klaren Nachthimmel. Nach einer Aufwärmeund Wartepause, die knapp eine Stunde dauert, reisst Gummi die Autotüre auf: «Die Lichter sind da!» Wir ziehen unsere Faserpelze an, Jacken, Handschuhe, Mützen, Schals, schnappen die Stative und stürmen ins Freie. Ein weisses Band steigt hinter den Bergen den Himmel hoch – es ähnelt der Milchstrasse. Aber nur wenige Minuten später wird das Band ganz dünn, grün, zuerst schwach, dann beginnt es zu funkeln. Es wird breiter und länger, bis es sich schliesslich in einem Bogen über unsere Köpfe zieht und hinter den Bergen wieder verschwindet. «Schaut in den Himmel!», ruft Gummi begeistert, der hier aufgewachsen ist und schon so viele Nordlichter beobachtet hat. «Keines ist wie das andere. Wow!» Es fällt vom Himmel, es tanzt unter den Sternen, es funkelt grün und gelb, zeitweise wie ein Diamant. «Das ist eines der schönsten Lichter seit längerer Zeit.» Wir sehen vor allem Sauerstoff- und Stickstoffionen, die durch geladenen Teilchen von der Sonne zum Leuchten gebracht werden. Je nach Höhe in Rot, Violett, Gelb oder Grün. Die Aurora borealis leuchtet aber nur im sogenannten Polarlichtoval, das vom Magnetfeld der Erde gebildet wird. Es entsteht deutlich nördlich der Schweiz. Polarlichter in der Schweiz sind äusserst selten und wenn überhaupt, meistens nur schwach zu sehen. Island aber «liegt günstig auf dem Polarlichtoval», sagt Felix Blumer von SRF Meteo. Das heisst: «Die Chance liegt bei 90 Prozent, dass man dort ein Nordlicht sieht – wenn der Himmel klar ist.» Optimal seien die Monate September, Oktober und März, so der Meteorologe. «Dann treten die hellsten Polarlichter auf.»
Bislang haben vor allem die Briten das winterliche Island entdeckt. Das mag daran liegen, dass sie sich von angeblich schlechtem Wetter nicht so schnell abschrecken lassen. Obwohl: Fakt ist, dass die Temperaturen im Winter durchschnittlich kaum unter null Grad fallen, dem warmen Golfstrom sei Dank. Und bläst einem doch der bissige Wind um die Ohren, gibts ja noch die heissen Quellen. Nicht die zischenden, brodelnden. Sondern die stillen, badewannenwarmen.
Dieser Artikel erschien im Original in der Kontiki-Publikation «nordland».
Fotos: Kontiki, Sandra Walser, Stefan Forster, Marie-Thérèse Mrusczok, Max Schmid