Mehr als 180 Nationalitäten vereint die Stadt, die auf Pfählen steht. Auf Einheimische zu treffen ist deshalb eher ein seltener Zufall als Alltäglichkeit. Ich habe einen getroffen - und wurde kurzerhand von ihm eingestellt.
«Kannst du morgen anfangen?» fragt mich Gérard Terwey (48), der am Tresen seines Cafés «Corner & Bakery» steht. Nach sechs Monaten, die ich in der Hauptstadt der Niederlande verbracht habe, ist der quirlige Geschäftsmann der erste gebürtige Amsterdamer, den ich kennen lerne. Sein gemütliches Café ist bei mir gleich um die Ecke. Also ein idealer Arbeitsplatz um ein bisschen Extra-Geld auf mein Konto zu schaffen. Ich wohne zu dieser Zeit noch hinter dem Rijksmuseum, gleich beim Museumsplatz.
Gérard Terwey spricht schon zu Beginn ohne Pause. Nach zwei Kaffees und Cola light nimmt sein Sprechtempo dann eine rekordverdächtige Schnelligkeit an. Als Inhaber von verschiedenen Gastronomie-Lokalen in Amsterdam und Bilbao und mehreren Kleidergeschäften in ganz Holland steht er immer unter Strom. Seine Entscheidungen trifft er schnell. Er hat mich nach zwei Minuten Smalltalk sofort als Servierhilfe eingestellt. Ich bin als Schweizerin vom Tempo und der Unkompliziertheit überrumpelt, von der Offenheit und Spontaneität beeindruckt.
Arrogant und ungehobelt, so werden die Amsterdamer von ihren Landesgenossen gerne beschrieben. Vielleicht ist da Neid mit im Spiel, denn Amsterdam ist neben Rotterdam Wirtschaftskatalysator des Landes. Ich zumindest kann die Klischees nicht bestätigen.
Terwey ist im Museumsquartier aufgewachsen, welches zu Zuid, dem reichsten Stadtteil von Amsterdam gehört. In den 80er-Jahren waren neben Intellektuellen viele Häuser von Studenten besetzt. Heute findet man in der Gegend viel mehr Rechtsanwälte und Geschäftsmänner, die nach ein paar Jahren mit ihren Familien in kleinere Vororte wie Bloemendaal nahe des Meeres ziehen. Eine Entwicklung, die der geschäftstüchtige Gérard Terwey nicht besonders schätzt.
«Es ist anonymer geworden in der Nachbarschaft und nicht mehr so gezellig»
sagt der Vater von drei Kindern. «Gezellig», ein Wort, dass man sich merken sollte. Die Holländer verwenden es um einen gelungenen Abend zu umschreiben oder ganz einfach das gemütliche Zusammensein zu benennen. Am liebsten wird dies mit einem Bier und Häppchen à la Bitterballen getan – den frittierten Bällchen aus grobem Paniermehl und Ragù.
Nicht das Rotlicht-Viertel, sondern das Museumsquartier, welches zum Stadtviertel Oud-Zuid gehört, ist heute das Touristen-Mekka in Amsterdam, sagt Terwey. Hierhin strömen seit der Neueröffnung des Rijksmuseum im Jahr 2013 jede Woche 35000 Menschen pro Woche – alleine um Rembrandts Nachtwache oder im Van Gogh Museum die Zwölf Sonnenblumen zu betrachten. Meine Wohnung liegt inmitten dieses wunderschönen Quartiers. Die Strassennamen sind hier benannt nach Malern wie Pieter de Hooch oder Johannes Vermeer und erinnern an die Blütezeit der niederländischen Malerei im 17. Jahrhundert.
Holländer mögen es klein und mundgerecht. Wer einen Supermarkt betritt, bemerkt schnell, dass Convenience-Food im Land des Windes und Wassers eine grosse Rolle spielt. Ich hatte anfänglich meine Mühe damit. Käse, Karotten und Kartoffeln in Scheiben und in Plastik abgepackt. Da verging mir die Lust am Kochen. Dass es gute und frische Produkte gibt, das habe ich vor allem abseits der grossen Touristenströme entdeckt.
In den Quartieren De Jordaan, De Pijp, Oud-West oder West findet man neben Foodmarkets mit frischen Produkten wie dem Noordermarkt viele kleine Restaurants und Cafés, die keine Massen abfertigen, sondern viel mehr auf Qualität ausgerichtet sind. Auch punkto Supermarkt gibt es Unterschiede. Marqt ist ein Supermarkt, der auf die Herkunft, Produktionsweise und Qualität seiner Produkte achtet. Eine Reaktion auf die gestiegene Nachfrage nach Qualitätsprodukten sind auch die «Foodhallen» im Quartier Oud-West ein. Diese sind in ehemaligen alten Tramdepots – nach dem Vorbild der Borough Markets in London und dem Mercado San Anton in Madrid – eröffnet worden.
Wo schickt ein gebürtiger Amsterdamer seine Gäste hin? Neben «de Wallen», wie die Holländer die Gegend um das Rotlichtviertel nennen, und den bekannten Museen, fällt dem cleveren Unternehmer Terwey natürlich sein Café ein. Ich habe in Amsterdam noch nicht viele Lokale gefunden, in denen man in gemütlichem Ambiente preiswert brunchen und lunchen kann. Das ist wohl auch der Grund, warum sein Café inmitten des Museumsquartier so gut läuft.
«Neben einer Kanalfahrt, bei der man die Herrenhäuser vom Wasser aus betrachten kann, empfehle ich, mit dem Fahrrad die Stadt zu erkunden oder in den nah gelegenen Wald, den Amsterdamse Bos, zu fahren.»
Einige Monate später: Seit meiner Ankunft in Amsterdam ist ein Jahr vergangen. Das Zentrum von Amsterdam ist mir klein und überschaubar geworden. Mit dem Fahrrad ist man in 15 Minuten überall. Trotz der zentralen Lage meiner Wohnung bin ich der Touristenströme müde geworden. Darum bin ich vom Museumsquartier ins Stadtviertel De Baarsjes gezogen. Wie auch Oud-West, war dieses vor ein paar Jahren ein Problemquartier. Heute wird es von vielen jungen und kreativen Leuten bewohnt, welche die Gegend mit neuen eigenwilligen Geschäften, Bars und Cafés aufwerten. Mittlerweile arbeite ich nicht mehr im Café von Gérard. Manchmal gehe ich als Gast bei ihm vorbei. Er setzt sich hin und spricht wie ein Wasserfall. Fünf Minuten lang. Dann flitzt er mit Kaffee und Cola light bewaffnet weiter.
Fotos: Sven Driesen