Hawaii ist weit, weit weg. Mein einziger Trost: Es ist von überall her weit weg — allen im Flugzeug geht es also gleich. Wir sind müde. Als das Flugzeug landet, ist es bereits dunkel, aber noch nicht spät. Ich werde mich noch daran gewöhnen müssen, dass die Sonne in tropischen Gefilden schon um 18 Uhr untergeht. Und zwar innerhalb von zehn Minuten. Dafür geht die Sonne schon um 6 Uhr morgens auf — nicht gerade mein gewohnter Ferienrhythmus. Aber das kann die Ferienstimmung, die einen bei der Ankunft auf der Insel Oahu sofort erfasst, nicht trüben. Tropisch warm umschmeichelt einen die Meeresluft beim Verlassen des Flugzeugs. Sofortige Entspannung: aaaaaah. Genau so habe ich mir das vorgestellt — der lange Flug ist bereits vergessen.
Als ich mich vom Flughafen zum Hotel in Honolulu, oder um genau zu sein, im Stadtteil Waikiki, fahren lasse, fängt mich ein erstes Mal die Realität ein. Wir passieren offensichtlich ärmliche Stadtteile und stecken in einem Riesenverkehr. Was ich beinahe vergessen hatte: Ich bin ja in den USA. So erinnert mich Honolulu auch bei strahlendem Tageslicht irgendwie an das Miami der Achtzigerjahre, das ich aus einschlägigen TV-Serien kenne: Hochhäuser, Palmen und leicht übergewichtige, erholungssuchende Nordamerikaner. Doch die Prise Hawaii ist überall sichtbar. Man trägt Flip-Flops, (Plastik-)Blumenkränze oder alternativ einzelne Plastikblumen in den Haaren — und wirklich: Hawaii-Hemden. An der Beach trägt man natürlich sein Surf-Brett. Dort allerdings ist man so schlank und braungebrannt wie sonst nur in Hochglanzmagazinen. Amerika halt.
Da ich aber nicht hier bin, um meinen Teint zu pflegen, reise ich weiter nach Big Island, die jüngste und grösste der vulkanischen Inseln. Natürlich ist sie mit gut 10 000 Quadratkilometern immer noch überschaubar, aber überraschend vielfältig. Typisch tropisch-paradiesisch im Nord-Osten, im nördlichen Landesinnern mit Rinderfarmen und hügeligen Weideflächen erinnert sie mich sogar ans Appenzell und im Zentrum und Süden geht es heiss zu und her: Der latente Schwefelgeruch und die diesige Atmosphäre (der sogenannte «Vog») sind untrügliche Zeichen dafür, dass die Feuergöttin Pele hier ihr Reich hat. Die beiden mächtigen Vulkane Mauna Kea und Mauna Loa ragen über 4000 Meter aus dem Meer und muten wie eine bizarre Mondlandschaft an. Manchmal spuckt Pele nur ein bisschen vor sich hin, manchmal bleibt sie kühl, manchmal brodelt und kocht sie und manchmal schüttet sie sich zerstörerisch übers Land: Mir zeigt sie die kalte Schulter. Nichts mit spektakulären Bildern von ins Meer tropfender Lava ...
Ich beschliesse, diese Landschaften vor allem wandernd zu erkunden: über steile Küstenabschnitte hin zu schwarzen Stränden, über Vulkankrater, die vor wenigen dutzend Jahren noch brodelten, jetzt aber höchstens noch etwas zischen und fauchen. Durch nach faulen Eiern stinkende, gelblich gefärbte, lebensfeindliche und Wasserdampf speiende Gegenden aber auch durch üppigste Urwälder, die einem den Schweiss auf die Stirn treiben, bevor man den ersten Schritt gemacht hat, und wo man von exotischem Knattern und Gurren und rauschenden Wasserfällen begleitet wird. Doch der eigentliche Sound meiner Reise ist guter, alter Reggae: passend zur Hang-Loose-Surfer-Einstellung, die viele hier haben. Einzig die teuren Preise trüben das Bild vom leichten Leben etwas. Da fast alles teuer importiert werden muss, sind die Preise entsprechend hoch. Und beim zweiten Hinsehen wird klar, die entspannte Stimmung ist zu einem guten Teil eine aus der Not geborene Tugend: Viele hängen an den Stränden herum, weil sie arbeitslos sind. Die Menschen, die ich kennenlerne, klagen über das teure und touristisch geprägte Leben, die wenigen Job-Chancen. Mir wird klar, wie klein die Welt hier ist — ein Paradies, aber nur, wenn man wieder weg kann.
Auch nicht so paradiesisch ist das Essen. Es geniesst keinen sonderlich hohen Stellenwert, was die Nahrungsaufnahme zu ebendem degradiert. Wobei ich es als Nicht-Meeresfrüchte-Esserin vielleicht besonders schlecht getroffen habe. Eine Gaumenfreude gibt es dennoch für mich: das ausgezeichnete Bier der einheimischen Kona Brewing Company. Von wegen kein Bier auf Hawaii! Mittlerweile ist es sogar in der Schweiz erhältlich.
Noch einmal wechsle ich die Insel, von der jüngsten zieht es mich auf die älteste, Kauai. Ich gönne mir einen Erstklassflug. Mit minimalem Aufpreis darf ich weiter vorne sitzen und bekomme auf dem rund halbstündigen Flug noch ein paar Nüsschen und eine Büchse eines klebrigen Getränks serviert. Hier ist Fliegen so normal wie anderswo Busfahren — es bleibt einem ja nichts anderes übrig. Die Flughäfen bieten mitunter auch nicht viel mehr Infrastruktur als ein Busbahnhof: ein Getränkeautomat, ein Parkplatz, ein Dach, ein Check-in-Schalter und dahinter ein Metall-Detektor. Die Sicherheitsbeamten tragen Flip-Flops.
Auf Kauai geht es beschaulich zu und her. Es gibt nur wenige Ortschaften, dafür auch hier absolut traumhafte Landschaften. Meine Pensionsmutter ist unschlagbar herzlich, bekocht mich köstlich und beobachtet mich verzückt beim Essen — bis sie mir aus lauter Zuneigung ihren einzigen Obama-Anstecker als Andenken schenkt. Wie vielerorts gibt es auch bei ihr keine richtigen Fenster, sondern nur Plastiklamellen, die man schliessen oder öffnen kann. So hat man mehr von der Geräuschkulisse, sagt sie: Gequake aus dem Wald, das Rauschen von Bächen und Wasserfällen ... Vor lauter Ferienstimmung auf Kauai lasse ich mich sogar zum Kauf einer Ukulele (handbemalt mit Kitsch-Sonnenuntergang) hinreissen.
Die Insel wimmelt von wildlebenden Hühnern und Hähnen. Natürlich rotten die sich gerne an Parkplätzen zusammen, wo sich ab und zu etwas Aufpickbares findet. Ich halte gebührenden Abstand, wir respektieren uns zum Glück gegenseitig. Die freilaufenden «Nenes» sind ungleich zahmer und man wird allenthalben auf sie hingewiesen: Nicht, dass die raren einheimischen Gänsevögel touristischen Tolpatschigkeiten zum Opfer fallen!
Die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten auf der Insel sind aber der beeindruckende Waimea Canyon im Inselzentrum und die Na Pali Coast im Norden, an der man tagelang von einsamem Strand zu einsamem Strand wandern kann: eine Perlenkette der einsamen Strände. Natürlich muss ich da hin — und es ist wirklich traumhaft. Der Weg aber ist steil und schlammig und ich bin froh um meine robusten Trekking-Schuhe. Ich fühle mich schon etwas als Entdeckerin im Dschungel, Abenteurerin, die sich mit der Machete durch dichten Urwald kämpft (natürlich ist der Weg einigermassen ausgebaut und ich habe keine Machete bei mir, aber man wird ja wohl noch fantasieren dürfen). Und gerade als ich so richtig schwitze und keuche, kommt mir eine Gruppe Einheimischer lächelnd entgegen. In Flip-Flops.
Hier, mitten im Dschungel mit Blick über eine der schönsten Küsten der Welt, begreife ich es: Ich bin nicht nur am Ende der Welt — ich bin in einer komplett anderen Welt. In einer Traumwelt, in der Flip-Flops die Hauptdarsteller sind und für ein ganzes Lebensgefühl stehen.
Als ich wieder zu Hause bin, zweifle ich daran, ob ich wirklich je da war oder ob es nur ein Traum war. Nur bei einem gelegentlichen Kona Longboard-Bier bin ich plötzlich ganz sicher: Ich war da. Dann suche ich meinen Obama-Anstecker und schaue mir die Fotos an. Ja. Ich war wirklich da. Und habe kein einziges Mal Flip-Flops getragen.
Fotos: iStock, Sarah Pally