In der Meerenge zwischen Teneriffa und La Gomera tummeln sich das ganze Jahr über Pilotwale. Bei einem Ausflug begegne ich den aussergewöhnlichen Meeressäugern. Und mache Bekanntschaft mit einem urchigen Kapitän.
Ich sitze auf der warmen Steinmauer beim Pier und warte. Es ist Februar. Sonnenstrahlen durchbrechen die Watte-Wolken, doch finde ich es zu kühl, um ärmellos herumzulaufen — oder meine Füsse schon in Flip Flops zu stecken. Beim Anblick der weinroten Krebse, die unter mir auf den Felsen herumkrabbeln, bin ich froh über die geschlossenen Schuhe. Ich geniesse den Anblick von türkisfarbenem Wasser, das kaum hörbare Geräusch kleiner Wellen, den Geruch von Salz und etwas Motorenöl in der Luft. Hafenstimmung. Das Gebirge zeichnet einen Rahmen um San Eugenio und den Puerto Colón. Ob ich den Vulkan von hier aus sehen kann?
Stimmengewirr reisst mich aus meinen Gedanken. Weitere Touristen treffen ein, setzen sich neben mich auf die Steinmauer. Ärmellos, mit Flip Flops. Eine Reiseleiterin taucht auf, begrüsst uns überschwänglich und führt uns zu einer Segelyacht. Sie sammelt unsere Schuhe ein, weist uns Plätze zu, rückt uns zurecht für ein Foto, ruft «smile» und knipst. Während wir langsam davongleiten, bleibt sie am Pier stehen und winkt. «Viel Glück beim Ausschau halten!» Sie wird immer kleiner und verschwindet schliesslich ganz, als wir den Hafen verlassen und aufs offene Meer zusteuern. Der Kapitän, urchig wie aus dem Bilderbuch, steht eine Weile schweigend am Ruder und blickt in die Ferne. Dann stellt er sich vor. Andrzej heisst er und kommt aus Polen. Seine Kapitänsfreunde hier auf Teneriffa nennen ihn Salsa. Weil er gerne Salsa tanzt, sagt er — und mustert schelmisch die Damen an Bord. Auf Teneriffa lebt er nun seit drei Jahren. Das Sesshaftwerden sei kein leichter Schritt für jemanden, der fast sein ganzes Leben auf den Meeren der Welt verbracht hat. Mit 18 Jahren hat er als Schiffsboy angefangen und sich hochgearbeitet bis zum Kapitän. Die Beringsee, Falklandsund, Labrador, Südafrika, Senegal; überall sei er schon gewesen. Ich schätze ihn um die 60. Wenn ihm die Decke auf den Kopf fällt, dann fährt er rüber nach La Gomera. Die Leute seien freundlicher, das Essen besser, die Landschaft noch schöner als auf Teneriffa. Und: nach fünf Uhr — und somit nach der Abfahrt der letzten Fähre — habe es keine Tagestouristen mehr. Seine Arbeit mit den Touristen gefalle ihm schon, sehr sogar. Aber ab und zu brauche er einfach Raum für sich.
Während wir immer weiter auf den Ozean hinausgleiten, wird das Wasser unter uns dunkler. Bei 2000 Metern liegt der tiefste Punkt in der Meerenge zwischen Teneriffa und La Gomera. Hier tummeln sich das ganze Jahr über bis zu 500 Pilotwale. Sie können acht Meter lang und drei Tonnen schwer werden. In der Nacht suchen sie Futter am Meeresgrund; tagsüber kommen sie hoch, um sich zu erholen. Weil die Walbeobachtungstouren vor der Küste Teneriffas stetig zugenommen haben und die vielen Boote für die Tiere einen Stressfaktor darstellten, hat die Regierung für Anbieter strengere Richtlinien festgesetzt, was die Distanz zu den Walen sowie die Dauer und Frequenz der Beobachtungstouren betrifft.
Andrzej funkt seine Kapitäns-Kollegen an und blickt auf den Monitor vor ihm. «Hier müssten sie sein», sagt er und zeigt auf ein rotes Kreuz. In einem Crashkurs erklärt er unserer kleinen Gruppe, was er auf seinem kleinen Bildschirm alles sieht. Von der Geschwindigkeit über den Kurs bis zur Meerestiefe und Windstärke. Was mich mit Abstand am meisten fasziniert, ist der traditionelle, schneekugel-ähnliche Kompass, den Andrzej plötzlich unter einer Abdeckung hervorzaubert. Darauf sei immer Verlass, sagt der Kapitän.
Dann stellt er auf einmal den Motor ab und wir treiben eine ganze Weile vor uns her. Trotz Sonnenschein ist es kühl, der Wind peitscht uns ins Gesicht. In der Luft liegt eine Mischung aus Ruhe und Spannung — alle warten darauf, den ersten Wal zu erblicken. Doch minutenlang passiert nichts. «Da!», «Ah, nein. Doch nicht.». Ob man die Tiere immer sieht, will eine Frau an Bord wissen. Der Kapitän beruhigt sie. Sie müsse nur Geduld haben. Wieder heisst es warten. Ich hörte eine Art Quietschen und meine erst, es sei etwas mit dem Segel. Andrzej bedeutet uns, still zu sein. Da ist das Geräusch wieder. Sie sind es. Ganz nah. Der Kapitän zeigt auf die rechte Seite und wir sehen eine sprudelnde Fontäne; einen «Blas», wie es im Seemannsjargon heisst. Und dann, wie aus dem Nichts erhebt sich unweit von uns ein dunkler Körper, um gleich wieder im Tiefblau zu versinken.
Der Pilotwal schwimmt parallel neben unserer Segelyacht, ich erkenne deutlich seine Rückenflosse. Er zeigt sich nur kurz, taucht wieder ab und weg ist er. Die Stimmung an Bord hellt sich auf. Gespannt wandern meine Augen über das schwarz wirkende Wasser, doch ich sehe ihn nicht mehr.
Andrzej hat inzwischen einen weiteren Spot ausfindig gemacht. Er wirft den Motor wieder an und steuert auf das nächste Ziel zu. Wir haben Glück: Vor uns sichten wir gleich mehrere Wale. Wie Synchronschwimmer erheben sie gleichzeitig ihre Körper und senken sie wieder. Ein stetes auf und ab. Es ist, als ob sie tanzen würden. Der Kapitän erzählt, dass Pilotwale für gewöhnlich in Gruppen leben und sich stets an einem Alfatier orientieren. Ich glaube zu erkennen, dass sich ein Wal in seiner Körpergrösse tatsächlich von den anderen unterscheidet und somit der Chef der Schule sein muss. Das sanfte Schaukeln des Bootes, die Ruhe auf dem Meer und die Konzentriertheit an Bord haben etwas Meditatives; die Tiere in Freiheit zu beobachten etwas Erhabenes. Ich bin so zufrieden, dass ich mir ein Lächeln nicht verkneifen kann. So verbringen wir fast zwei Stunden Seite an Seite mit den Walen im Ozean und freuen uns über die Existenz dieser faszinierenden Meeresbewohner. Ich schalte komplett ab und bin in einer anderen Welt und vergesse alles um mich herum. Nach einer gefühlten Ewigkeit nehmen wir Kurs auf den Hafen — und ich kehre langsam in die Realität auf dem Festland zurück.
Schon von Weitem sehe ich die Reiseleiterin am Pier stehen. Wir steigen aus, der Boden unter den Füssen fühlt sich noch etwas wackelig an, mein Gesicht brennt. Die Frau begrüsst uns überschwänglich und drückt uns ein — nicht gerade preisgünstiges — Erinnerungsfoto in die Hand. Ich kaufe es trotzdem. Zurück im Hotel mache ich es mir auf dem Sofa gemütlich und lasse den Tag nochmals Revue passieren. Das Wasser, die Sonne und die Begegnung mit den Walen haben mich angenehm müde gemacht. Ich betrachte das überteuerte Foto und stelle zufrieden fest, dass ich zum Zeitpunkt der Aufnahme noch keinen Sonnenbrand im Gesicht hatte.